Daß Rezitationsabende nicht langweilig sein müssen, bewies am Dienstag wieder einmal Rolf Berg in der dreiviertelvollen »Tonne«: Sein Tucholsky-Programm, erst vor einem Jahr zusammen mit Lutz Görner aktualisiert, kam bei den Zuhörern überraschend gut an.
Die Beschäftigung mit diesem überaus zeitkritischen, satirischen und oft auch komischen Autor der zwanziger und dreißiger Jahre ist für den ehemaligen LTT-Schauspieler nichts Neues; schon 1981 trat Berg mit den gleichen Tucholsky-Texten auf.
Der erste Abschnitt der szenisch gestalteten Rezitation war dem Pazifisten und unermüdlichen Kämpfer gegen militaristisches Denken gewidmet. »Kleine Begebenheit«, »Der Graben«, »Krieg dem Kriege«: Man mußte Rolf Berg nicht unbedingt mit seinem »Wintermärchen«-Programm von Heine gesehen haben, um zu merken, daß des Autors Anliegen auch die des Interpreten sind.
Die sparsame Gestik und Mimik, die Konzentration aufs Erzählen verbunden mit der gekonnten und sensiblen Gitarrenbegleitung von Thomas Zentawer verstärkten die intensive Botschaft der Texte zusätzlich.
Das knapp zwei Stunden lange Programm bot einen kleinen Überblick über das äußerst vielseitige Werk Autors: Ätzende Gesellschaftskritik kam genauso vor wie Satirisches; Tucholskys »Schnipsel« — kleine Zwei- und Dreiteiler standen neben ausgewachsenen Blödeltexten. Aus der »soziologischen Psychologie der Löcher«: »Das Loch ist ein ewiger Kompagnon des Nicht-Lochs« und »Löcher, die sich vermählen, werden ein Eines«.
Erheiternd auch die heftigst erklatschten Zugaben; beim »Colloquio in utero« saßen Berg und Zentawer — er glänzte nicht nur als Gitarrist und Mit-Sänger, sondern interpretierte manche Tucholsky-Zeile mit trockenem Humor — auf dem winzigen Gitarrenverstärker in einer Art »Embryonalhaltung« und lasen als Zwillinge im Mutterleib die Zeitung. Die Zulassungszahlen an der Uni veranlassen sie, gar nicht erst »raus« zu wollen.
Nicht nur bei dieser Nummer wunderte man sich über die höchst aktuellen Assoziationsmöglichkeiten, die Berg mit fein nuanciertem Gesichtsausdruck förderte. Diese Aktualität wird natürlich auch durch die Auswahl erzeugt, denn nicht alles, was der Dichter unter seinem eigenen Namen und vier Pseudonymen schrieb, hat den Tag überdauert. Dem einen oder anderen Besucher hat sicher zu denken gegeben, daß die giftigen verbalen Pfeile Tucholskys heutzutage immer noch treffen können.
Autor: Martin Gerner
Erstabdruck/Erstveröffentlichung: Reutlinger General-Anzeiger, 21. April 1991
Sonntag, 21. April 1991
Rolf Berg: Ein literarisches Hör-Vergnügen
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