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Samstag, 7. September 1991

Francois Morellet: Unerbittliche Sparsamkeit der Mittel

Die Reutlinger Stiftung für konkrete Kunst zeigt in Zusammenarbeit mit dem Musee de Grenoble noch bis Ende Oktober die erste Retrospektive des grafischen Werks von Francois Morellet, zusammmen mit dreidimensionalen Modellen, »weißen Bildern« aus den achtziger Jahren und einer repräsentativen Auswahl früher Tafelbilder.
Die ausgestellten und bisher weitgehend unveröffentlichten Zeichnungen des 1926 in Cholet geborenen Künstlers zeigen gut nachvollziehbar seine kreative Entwicklung.
Serge Lemoine, Organisator der Ausstellung, Chefkonservator des Musee de Grenoble und Autor des ansprechend gemachten zweisprachigen (französisch/ deutsch) Katalogs zur Ausstellung, schreibt über Morellet und seine Arbeit: »Was im Gedächtnis bleibt, das ist sein radikaler Wille zum Weglassen, seine unerbittliche Sparsamkeit der Mittel und seine geradezu verwirrende Einfachheit. Es gibt hierzu eine mögliche Erklärung: Seine Kunst beruht von Anfang an auf einem Prinzip, dem Prinzip der Spielregel, die der Künstler sich selbst gibt und die sein Schaffen bestimmt «
Die frühesten jetzt in Reutlingen zu sehenden Zeichnungen stammen aus den Jahren 1948 bis 1950 und sind weitgehend gegenständlich. Nachdem Morellet wenig später Charcoune, Dimitrienko, Mondrian und Bill kennengelernt hatte, reduzierte er seine Bilder auf einfache Formen; Farbigkeit weicht der Monochromie. Ab 1952 wendet er sich immer mehr der Erforschung kompositorischer Systeme, der Geometrie und der Berechnung von Bildern zu. Morellet beschäftigt sich intensiv mit der Überlagerung von Linien. Diese Arbeiten sind in der Ausstellung der Stiftung für konkrete Kunst ebenso zahlreich vertreten wie Studien ab 1956, in denen er — das Interesse an Farben ist wieder erwacht — Komplementärfarben erzeugt, ohne die einzelnen Farben miteinander zu mischen.
Er untersucht das Phänomen der dreidimensionalen Wahrnehmung zweidimensionaler Zeichnungen durch das menschliche Auge, entdeckt, daß ihm fertige »Letraset«-Raster die Arbeit enorm erleichtern und nimmt das in Angriff, was Lemoine »Die Erprobung des Zufalls« nennt: Beispielsweise setzt Morellet im Jahr 1960 40000 leuchtend rote und blaue Quadrate in Öl auf eine ebenfalls quadratische Leinwand — die Verteilung der Bildelemente folgt dabei geraden und ungeraden Zahlen eines Telefonbuchs.
In den siebziger Jahren beschäftigt sich der Künstler zunehmend mit Lichtinstallationen und Architektur — letztere ist für Morellet bis heute interessant. Zu verschiedenen Projekten sind am Wandelknoten kleine Modelle (Morellet selber nennt sie »Skizzen im Raum«) zu sehen: Strukturen im dunklen Raum, riesige Wandmalereien oder auch Entwürfe für verschiedene Ballettinszenierungen.
»Meine Kunst ist wie ein Picknick: Nur was die Besucher mitbringen, können sie auch verzehren«. Der Wahrheitsgehalt dieses Bonmots des Künstlers wird jedem Besucher der Retrospektive spätestens dann schlagartig klar, wenn er die Ausstellungsräume betritt, in denen die »Weißen Bilder« von Morellet ausgestellt sind. »Den Humor und die Ironie darin wird der begreifen, der Hintergrundwissen hat«, sagt die Geschäftsführerin der Stiftung, Dr. Gabriele Kühler.
Auf den ersten Blick wecken die vielen weißen Leinwände in den in Frankreich üblichen Format-Traditionen für Porträt, Landschaft und Seestück — an ebenso weißen Wänden aufgehängt — Unverständnis, bestenfalls Irritation. Deutlich werden die »Defigurationen«, in denen Morellet Gesichter oder auch ganze Bilder durch weiße Leinwände ersetzt, erst im Vergleich. Deshalb haben die Ausstellungsmacher gegenüber der verblüffenden Morellet-Version des Herrenberger Altars, die extra für die Reutlinger Schau gemacht wurde, eine Kopie des Originals aufgehängt.
Daß Morellet Ernsthaftigkeit nicht gerade zu seinen hervorstechendsten Tugenden zählt (er selber bezeichnet sich als »frivol«), wird auch beim Betrachten von Serien wie »Geometrie dans les spasmes« — gesprochen ist der Titel ein Wortspiel — klar, oder auch im »Steel life« von 1989. Sinnigerweise hat Morellet keinen Stahl, sondern Aluminium eingesetzt.
Autor: Martin Gerner
Erstabdruck/Erstveröffentlichung: Reutlinger General-Anzeiger, 07. September 1991

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