»Heidegger ist der größte Denker unseres Jahrhunderts. Er hat weltgeschichtliche Bedeutung. Er ist einer der aufregendsten Denker des Abendlandes« — Sätze des Pfullinger Verlegers Günther Neske über seinen wohl bekanntesten philosophischen Autor, Martin Heidegger.
Die Besucher in der Pfullinger Stadtbibliothek, die zusammen mit der VHS eingeladen hatte, bekamen kein vorformuliertes, tiefschürfendes Referat über Heideggers Philosophie vorgesetzt — »das geht gar nicht«, meinte Neske, »das ist ein Thema, zu dem man ein ganzes Leben braucht«. Der Verleger erzählte vielmehr in lockerem Gesprächston von seiner Beziehung zu dem Freiburger Philosophen, von der verlegerischen Arbeit und von Begegnungen mit berühmten Zeitgenossen.
Egal, wieviel man schon über Heidegger wußte: Die Neugierde wurde schon allein durch die Tatsache geweckt, daß Neske als einziger noch lebender Originalverleger sozusagen aus »erster Hand« über den Philosophen berichten konnte. »Es war das größte Geschick meines Lebens«, bekannte Neske vor den knapp 50 Zuhörern, als Heidegger ihm einen Tag nach seinem Vortrag »Die Frage nach der Technik« 1953 in München von sich aus anbot. seine Schriften zu verlegen.
Schon ein Jahr später waren die ersten beiden Heidegger-Titel im Neske-Programm; heute zählt das Verlagsverzeichnis zehn Bücher Heideggers, die zum Teil schon in der neunten Auflage erschienen sind. Dazu kommen zwei Sammelbände über Heidegger und drei Sprechplatten mit Originalmitschnitten der »denkenden Stimme«. Keine Frage, daß Pfullingen durch den Neske-Verlag in der Welt noch bekannter wurde, als es sowieso schon ist: Heidegger aus Pfullingen!
Auch Heidegger in Pfullingen? Neske schilderte zwar plastisch und unterhaltsam den ersten Besuch des Philosophen in Pfullingen - Konkretes über den Inhalt der Gespräche. die die beiden miteinander führten, war nicht zu hören. Ebensowenig erfuhren die Besucher etwas über Kontroversen zwischen Autor und Verleger. die es eigentlich immer gibt.
Das Thema, das die Zuhörer am meisten interessierte, war die Frage, ob Heidegger ein Nazi war. Bücher zum Thema, und die anschließende Diskussion machten diese Frage höchst aktuell, und auch Neske hatte einen Beitrag vorzuweisen: »Antwort«, ein Sammelband mit ZDF- und »Spiegel«-Interviews mit Heidegger und Beiträge kompetenter Autoren über Heidegger, vor einem Jahr erschienen. Die Lesung eines Aufsatzes aus dem Buch (»Über das Schweigen von Heidegger«) macht deutlich, wie subtil man hier überlegen muß.
Die Fragen der Zuhörer beantwortete Neske zwar offen (»Da gibt es nichts zu entschuldigen!«) — mancherlei Hintergründe blieben trotzdem aus dem Spiel. Sicher war diese zufällige Gesprächsrunde auch nicht die richtige, um zu einer befriedigenden »Antwort« zu kommen.
Ob der Abend denjenigen, die noch nichts von dem Philosophen wußten, einen Zugang zu Heidegger öffnete, ist zu bezweifeln. Für »Anfänger« ist gerade die Hörprobe aus dem »Satz der Identität« ein schwerer Brocken: Heideggers Hölderlin-Rezitation war sicherlich nicht leichter. Die, die kamen, bewiesen jedenfalls Interesse — sei es an Heidegger oder an dem Mann. der da in Pfullingen so interessante Bücher (und nicht nur philosophische!) macht. Mancher hatte am Ende mehr Fragen als am Anfang. Das ist durchaus ein Gradmesser für die Güte eines solchen Abends.
Autor: Martin Gerner
Erstabdruck/Erstveröffentlichung: Reutlinger General-Anzeiger, 20. März 1989
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Montag, 20. März 1989
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