Fast wie eine Märchenstunde war die Lesung des Schweizer Schriftstellers Urs Widmer im »Markt« der Reutlinger Stadtbibliothek. Dem 54jährigen, in Zürich lebenden Basler ist mit »Der blaue Siphon« (Diogenes Verlag) eine Zeitmaschinen-Geschichte gelungen, die spannend unterhält, voll warmherzigen Humors und tiefer Traurigkeit ist und die sprachlich ein Meisterwerk darstellt.
Der Trick stammt nicht von Widmer: Daß ein Erwachsener plötzlich um Jahre in seinem Leben zurückversetzt wird, daß ein Kind in seine Zukunft schaut — das war und ist, von der »Zeitmaschine« H. G. Wells bis hin zum Spielberg-Kinohit »Zurück in die Zukunft«, eine erfolgversprechende Ausgangsposition für spannende Geschichten.
Die Verwandlung des Ich-Erzählers passiert, welche Ironie, während er im Kino sitzt. Als er nach Hause geht, kommt ihm vieles fremd vor, in seine Wohnung kommt er nicht hinein, und als er sich seiner Frau bemerkbar machen will, öffnet ein wildfremder Mann das Fenster. »War das einer aus Isabells Arbeitsgruppe?«, fragt sich der Zeitreisende verwirrt.
Er fährt nach Basel, der Stadt seiner Kindheit. Ein Radfahrer begegnet ihm, irgendwoher kenn er den Mann. Später, im Haus seiner Eltern, erkennt er den Radler: Es ist sein Vater — nur halt viel jünger als der zeitversetzte Sohn.
Der Protagonist fährt ins Dorf seiner späteren Frau, trifft Isabell als zweijähriges Kind, sagt ihr, daß er sie einmal heiraten wird und schenkt ihr — wohlgemerkt im Kriegsjahr 1941 — einen »Garfield«-Aufkleber.
Die Eltern des Erzählers sind in heller Aufregung: Ihr dreijähriger Sohn ist vorgestern nach einem Kinobesuch verschwunden, die Gendarmerie ratlos. Der Zeitreisende weiß Rat: Mit Isette, dem Kindermädchen, und dem Hund der Familie (der hat den vermeintlich Fremden als einziger gleich erkannt) geht er zum Kino. Seine Abschiedsworte: »Isette, ich liebe dich seit 49 Jahren«.
Wieder in der Gegenwart des Kriegsjahrs 1991 — Widmers Erzählung beginnt mit Bildern des Golfkriegs — ist alles wieder, wie es war: »Autos, Autos, Autos, ich bin wieder in meiner Stadt.« Seine Frau und seine Tochter Mara sitzen friedlich am Tisch, fragen desinteressiert nach dem Film. Gerade mal drei Stunden soll ihr Mann und Vater weg gewesen sein. Aber: Wo kommt der Hund her?
»Aufgelesen« hat ihn der Zeitreisende — obwohl er doch weiß, daß seine Frau Hunde nicht leiden kann…
Mara berichtet von einem Dreijährigen, der mit einem Hund ums Haus lief, und zeigt ihrem Vater sein eigenes Feuerwehrauto. »Das hat mir der Junge geschenkt«, sagt sie zu ihren Vater. Der wundert sich, daß an dem Wagen noch die Leiter dran ist, die er vor Jahrzehnter verloren hatte.
»Weißt du, im Grunde mag ich Hunde« erzählt Isabell am Ende eines entspannten Familienabends, »als ich klein war, hat mir meine Mutter einmal einen einen Kleber geschenkt, mit einem gelben Hund drauf«.
Widmer schloß die Lesung und den Kreis des Kriegsthemas mit sprachgewaltigen, poetischen Bildern des Abwurfs der Atombombe
»Little Boy« auf Hiroshima. Als Kind hatte sich der Erzähler immer vorgestellt, die todbringenden schwarzen Pünktchen am Himmel sei-
en auch die »Bomben«, mit denen der leuchtend blaue Siphon (den er als Erinnerungsstück auch in der Gegenwart von TV-Bildern des Computerkriegs beobachtet) unter Druck gesetzt wurde.
Mit einer kleinen Diskussion zwischen Widmer (der diese Diskussionen eigentlich gar nicht mag) und ein paar Zuhörern endete
die auf hohem Niveau bestens unterhaltende Lesung. Der Autor, der im Gegensatz zu vielen anderen seine Schreibe auch so vorlesen
kann, daß es ein Genuß fürs Ohr ist, dachte laut über die Gründe für seine Schreiblust nach: »Ich möchte prüfen, ob ich noch lebendig bin, und ein wenig warmes Leben herstellen«.
Autor: Martin Gerner
Erstabdruck/Erstveröffentlichung: Reutlinger General-Anzeiger, 16. März 1993
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Dienstag, 16. März 1993
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