Montag, 11. Mai 1992

Frank Niess: Der Anfang vom Ende Amerikas

Aus Anlaß des 500. Jahrestags der »Entdeckung« Amerikas lud die Reutlinger Stadtbibliothek am Freitagabend in ihrer Veranstaltungsreihe »Das verlorene Paradies« zu einer Lesung und einem Konzert ein. Bevor die spanisch-venezolanisch-deutsche Gruppe »Guapacha« vor knapp 100 Besuchern lateinamerikanische Rhythmen mit der Melodik und Harmonik Europas verband, referierte der Journalist und Autor Frank Niess über die »Geschichte einer Unterentwicklung«. So lautet der Untertitel seines bereits 1991 im Piper-Verlag erschienenen Buchs "Am Anfang war Kolumbus" - die neueste Veröffentlichung von insgesamt sechs, in denen der ehemalige Mitarbeiter der »Frankfurter Hefte« und heutige SDR-Wissenschaftsredakteur Niess sich mit dieser Region beschäftigt.
Rund eineinviertel Stunden lang sprach Niess knapp, nüchtern und dennoch umfassend sowohl über Person des Christoph Kolumbus (»Gleichermaßen ein Mann des Mittelalters und der Renaissance«) als auch über die bis heute spürbaren Folgen von dessen Zufallstreffer — bis ans Ende seines Lebens glaubte der Mann ja, in Indien gelandet zu sein.
»Keinesfalls ein strahlender Held« sei Kolumbus gewesen, aber »er war auch nicht an allem schuld«. Vor allem war er, so Niess, ein Unternehmer, »der wie seine Nachfolger, die Conquistadoren, seine Reisen selber finanzierte und deswegen ein großes Interesse an der Amortisierung hatte«. Kolumbus habe den Handel von der Pike auf gelernt und von den spanischen Königen unter anderem ein Zehntel des Goldes verlangt, das er nach Europa transportierte — »mit Alexander von Humboldt beispielsweise ist Kolumbus nicht zu vergleichen«, sagte Niess.
Zwar gebe es in sei nen Berichten wohl lyrische Schilderungen der Flora und Fauna der neuen Welt — aber in den folgenden Sätzen habe sich Kolumbus immer Gedanken zur kommerziellen Nutzung gemacht.
Die »Entdeckung« ging bruchlos in die Eroberung über: »Einen unglaublichen Raubbau an der Natur betrieben die Spanier und zerstörten die vorhandene Kultur rücksichtslos, um ihre eigene zu etablieren. Wo die Indios vorher gerade 70 Tage pro Jahr für ihren Lebensunterhalt arbeiteten, mußten sie unter n Spaniern sieben Tage in der Woche schuften, ohne richtig verpflegt zu werden. Die Vorstellung vom Untermenschen gehörte zum ideologischen Inventar der Eroberer«, so Niess.
Im »größten Völkermord der Geschichte« kamen (von 1492 bis 1600) 70 Millionen Indios um. Ohne die Ressourcen Lateinamerikas sei die heutige westliche Industriegesellschaft gar nicht denkbar gewesen: »Unser Reichtum geht auf Amerika zurück. Heute sind die Länder arm, weil sie reich an Rohstoffen waren«.
Die heutigen Nord-Süd-Konflikte seien mit der Eroberung Lateinamerikas vorbestimmt gewesen — schon damals exportierten die Länder nur ihre Rohstoffe, die dann im Westen zu Fertigprodukten verabeitet wurden. »Im 19. Jahrhundert traten dann die USA die Nachfolge der Spanier an«, meinte Niess, bevor er detailliert auf die weitere unselige Entwicklung, die die Länder Lateinamerikas heute Tag für Tag ärmer werden läßt, einging. Mit Perspektiven beendete er seinen packenden Vortrag: Schuldenerlaß und eine Verdrängung der Schattenwirtschaft seien fürs Überleben unerläßlich — genau wie ein tiefgreifender Wertewandel im (noch) reichen Teil der Erde.
Autor: Martin Gerner
Erstabdruck/Erstveröffentlichung: Reutlinger General-Anzeiger, 11. Mai 1992

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