Montag, 6. Juli 1992

AfroBrasil Tübingen 1992: Unbeschwerte Ausgelassenheit

Tübingen liegt doch in der Nähe des Zuckerhuts, wenigstens acht Stunden im Jahr: Als Gilberto Gil, der Superstar der brasilianischen Musikszene, am Samstag auf dem Marktplatz kurz vor Mitternacht mit seiner exzellenten Begleitband den Klassiker »Brasil« anspielte, war die Stimmung am Kochen.
Begeistert tanzend sang ein großer Pulk seiner Landsleute auswendig mit, grün-gelbe Flaggen wurden geschwenkt. Die unbeschwerte Ausgelassenheit übertrug sich auch auf diejenigen, die südamerikanisches Temperament nicht mit der Muttermilch aufgesogen haben. Das Tübinger Publikum feierte mehr als zwei Stunden lang »seinen« Star, der fast keine Gelegenheit für Abstecher in die Unistadt ausläßt.
Die afrobrasilianische Nacht beim »7. internationaler Tübinger Festival« hatte an Nachmittag bei wolkenverhangenem Himmel fast so begonnen, wie sie endete. Die »Banda Afro Ara Ketu«, das sind elf Vollhlut-Musiker aus Salvador da Bahia, brauchte exakt drei Minuten, um Bewegung ins Publikum zu bringen. Sechs Bandmitglieder waren an Perkussionsinstrumenten beschäftigt, hörten phantastisch gut aufeinander und trommelten mit großer Energie eineinviertel Stunden lang.

Da mischte sich abwechslungsreich und voller Spannung Samba- mit Reggae- und Funkrhythmen, die Harmonien von »Ara Ketu« haben zum großen Teil Ohrwurm-Qualitäten. Nicht nur »Zoo«-Chef Winfried Kast, der die Gruppe zu ihrem ersten Konzert in Deutschland nach Tübingen geholt hatte, war ganz aus dem Häuschen.
Als Marisa Monte, eine junge Sängerin aus Rio de Janeiro, zweieinhalb Stunden später mit ihrer Band anfing zu spielen, hatten die Wolken vorübergehend der Sonne Platz gemacht. Die Miene von »Zoo«-Mitarbeiter Jürgen Eberhardt hellte sich auf. Das Konzert der in ihrer Heimat äußerst beliehten Sängerin, deren Band in Tübingen stilistisch variabel und wie aus einem Guß musizierte, begann leise und verhalten. Bis zur Mitte ihres Auftritts ließ sich die Monte, deren eher dunkel timbrierte, weiche Stimme wie geschaffen ist für süße Balladen, immer wieder nur mit akustischer Gitarre und sparsamer Perkussion begleiten. Das war Musik, die viel besser in einen intimen Club als auf eine Open-Air-Veranstaltung paßte.
Später taute die anfangs fast scheu wirkende Sängerin mehr und mehr auf. Als ihre Band rhythmisch immer verzahnter spielte und sich die jazzbeeinflußten Harmonien mehr der Funk- und Rock-Ecke näherten, gab's auch zumindest für den Halbkreis direkt vor der Bühne — im Publikum kein Halten mehr. »All I want is you«, sang die erst 25jährige Marisa Monte neben brasilianischen Stücken, Titel von »Sly and the Family Stone« und Tom Waits (»Temptation«) — aher auch eine Arie aus der klassischen Oper »Die Nachtwandlerin« von Vincenzo Bellini. Am Ende verlangten nicht nur die Brasilianer begeistert nach mehr.

Gilberto Gil, gerade 50 gewordene Identifikationsfigur der armen schwarzen Brasilianer, riß das Publikum zu wahren Begeisterungsstürmen hin. Sänger und Gitarrist Fernando Cruz, der im Vorjahr selber auf der Marktplatz-Bühne stand, war von der familiären Atmosphäre auf dem Marktplatz sichtlich angetan. Immer wieder kletterten weibliche Fans über die Absperrung, um dem Meister ein Küßchen auf die Wange zu drücken. Der lieferte zum Schluß eine treibende Version von Bob Marleys »Stir it up« und ging exakt um Mitternacht von der Bühne. (mpg)

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In diesem Blog habe ich 500 von rund 5000 Artikeln und Kritiken archiviert, die ich zwischen 1984 und 2012 in verschiedenen Tageszeitungen v...