Dienstag, 7. Juli 1992

John Lurie: Kunterbunter Stilmix

Zickigen Altherrenjazz, knallharten Funk ä la George Clinton, arabische Harmonien, Blues, Sambarhythmen und noch viel mehr brachten die »Lounge Lizards« um den New Yorker Altsaxophonisten und Schauspieler John Lurie am Sonntagabend auf die Bühne der Tübinger Mensa Wilhelmstraße. Rund 600 Besucher waren gekommen, um sich zwei Stunden lang den bunten Stilmix der neun »Salonlöwen« zum Abschluß des 7. internationalen Tübinger Jazzfestivals anzuhören.
Seit elf Jahren zertrümmert das Multitalent Lurie systematisch und offenbar mit größter Lust Schubladen. Auch für sein Tübinger Konzert ist kein gültiges Etikett zu finden. Kunterbunt und mit viel musikalischem Humor wechseln die perfekt aufeinander abgestimmten Musiker an Trompete, Saxophonen, Gitarren, Bass, Perkussion, Schlagzeug und elektronischem Cello die Stile — sogar innerhalh desselben Stücks.

Mit südamerikanischem Getrommel der exzellenten Rhythmiker G. Calvin Weston (Schlagzeug) und Bill Martin (Perkussion) fing alles an. Dann kam der Chef der Band auf die Bühne und improvisierte nervös-schrille, quäkende Linien. Nach und nach stiegen die restlichen sechs Musiker ein und steigerten im Verlauf des Stücks ihre Spielintensität und Dynamik immer mehr — bis aus dem fein ziselierten, intimen Trio-Beginn ein kochendes Funk-Gebrodel geworden war — mit Gitarrenlinien von Mild Navazio und Dave Tronzo, die ungefähr den Charme einer wildgewordenen Heimwerker-Kreissäge hatten.
»Wer hat das Bild gemalt?« fragte Lurie mit interessierter Stimme, den Blick auf die nichtssagende Ornamentik an den Mensawänden gerichtet, »das ist eindeutig eines meiner Lieblingswerke«. Sein Hang zum Spott und Sarkasmus kam auch musikalisch immer wieder durch — beispielsweise bei einem arabisch klingenden Stück, das aus einer zerstückelten Freejazz-Improvisation entstanden war und sich urplötzlich in einen gewöhnlichen Marsch verwandelte, um kurz darauf wie ein wüstes Lehrheispiel in Sachen »Punkjazz« zu klingen.
David Tronzo lieferte im Zusammenspiel   mit Bassist Oren Bloedow und der Cellistin Jane Scarpantoni einen hinreißenden, schleppenden Blues, in den er allerlei ungewöhnliche Effekte einhaute: So klang seine Gitarre hier stellenweise wie ein rückwärts abgespieltes Tonband — und kurz darauf wieder nach altbekannter, erdiger Chicago-Tradition.
Doch die »Salonlöwen« setzten noch eins drauf. Aus dem Drum-Solo entwickelte sich ein knallendes Funk-Stück Mehr als 25 Minuten lang steigerten die einzelnen Musiker ihre Intensität in wilder Kollektivimprovisation und verwandelten die Mensa in einen Tanzschuppen. Kaum einer konnte sich den hypnotisierenden Schlagmustern entziehen. Der Beifall war heftig und langanhaltend, die »Zugahe«-Rufe laut. Fast ganz zum Schluß zitierte John Lurie »A love supreme« von John Coltrane. Danach verließen die Bandmitglieder nach und nach die Bühne, dasselhe Stück wie zu Beginn spielend. Heftiger Beifall belohnte die »Lounge Lizards«. (mpg)

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In diesem Blog habe ich 500 von rund 5000 Artikeln und Kritiken archiviert, die ich zwischen 1984 und 2012 in verschiedenen Tageszeitungen v...