Mittwoch, 28. August 1996

Marktplatz-Festival Reutlingen '96: Soul von damals und heute

Wer pünktlich zum Beginn des von der »Färberei 4« veranstalteten »2. Reutlinger Marktplatz-Festivals« gekommen war, erlebte eine jener Konzert-»Überraschungen«, die in der Achalmstadt gar nicht so selten sind: Trotz guten Programms, einwandfreiem Wetter und vergleichsweise moderaten Eintrittspreisen blieben die Open-air-Fans (zunächst) weitgehend weg.

Kaum 450 waren es, die die ersten Töne der Hamburger »Cultured Pearls« miterlebten. Nur langsam trudelten die Zuhörer während des ausgezeichneten Konzerts der Musiker um Sängerin Astrid North ein. Die zierliche Frontfrau hatte anfangs arge Mühe, die Fans zum Mittanzen zu bewegen.

Aber die gutgespielte Mischung aus allerlei Pop-Elementen, dezent jazzig »ange-schrägten« Harmonien, treibenden Club-Grooves und dem Soul-Feeling der routiniert eingespielten Formation zeigte Wirkung. Spätestens beim Titeltrack des (aktuellen) Debüt-Albums, »Sing De La Sing«, kam Bewegung in die Schar der Fans.

Anwesende Pop-Experten hatten vorher befürchtet, der fein ausbalancierte, recht luftige und elegant schwingende 90er-Jahre-Soul würde auf dem großen Marktplatz nicht zünden können; der »Acid Jazz« der »Cultured Pearls« entspringt schließlich der Club-Szene. Aber die Band erfüllte ihre primäre Aufgabe als Fan-Aufwärmer hervorragend, bediente mit ihrer Musik gleichermaßen Hirn und Hintern — und hat, jedenfalls im Vergleich zum Auftritt im Tübinger »Sudhaus« vor einigen Monaten, nochmals deutlich zugelegt, was Effektivität und Homogenität anbetrifft.

Größter Pluspunkt bei den »Cultured Pearls«: Die warme, sehr flexible und ausdrucksstarke Stimme von Astrid North. Nicht ganz so überzeugend sind die etwas gleichförmigen Arrangements: Für manchen mag der Cocktail-Sound dann schon beliebig klingen.

Eindeutig dagegen die »Temptations-Review« von Dennis Edwards und seinen zehn Mitmusikern und -sängern. Der Hitschreiber der »originalen Temptations« aus den 60er Jahren und seine Begleiter brachten nach einem zu Beginn etwas tranig wirkenden »1 Will Always Love You« von Gast-Sängerin Esther Todd ein »Best-of-Programm« der legendären Soul-Vokalformation. Und das heißt im Fall der »Temptations« einen Superhit nach dem anderen: »Psychedelic Shack«, »Cloud Nine«, »Get Ready«, »Papa Was a Rolling Stone« .

Klar, daß da die Festivalgäste weitgehend begeistert mitgingen. Mehr als 1 000 genossen die musikalisch nostalgische, aber routinierte und kein bißchen angestaubt vorgetragene Show — und scherten sich einen Dreck drum, wie »original« diese »Temptations-Review« nun auch immer gewesen sein mag.
Fakt ist, daß Edwards seine eigenen Hits unterm Gruppennamen nicht mehr spielen darf, weil sich ein anderer die Rechte am Namen gesichert hat. Fakt ist aber auch, daß diese »Temptations-Review« teilweise mehr Dampf machte, als die Platten der »echten Temptations« ahnen lassen. Die begeisterten Fans feierten die Band: Die Zugabe war hier ein Muß. (mpg)

500 von 5000

In diesem Blog habe ich 500 von rund 5000 Artikeln und Kritiken archiviert, die ich zwischen 1984 und 2012 in verschiedenen Tageszeitungen v...