Montag, 12. August 1996

Marktplatz-Festival Reutlingen '96: Afropop und Eigthies-Sound

Am Samstag kamen die Zuhörer nur zäh zum regulären Programm auf den Marktplatz, am Ende waren es nach Veranstalterangaben rund 1700. Die Reutlinger Lokalmatadoren von der »Dance Music Factory« — unter diesem Projektnamen werkeln unter anderem Keyboarder Oliver Laib und Gitarrist Gino Samele im »Färberei«-eigenen Studio — absolvierten ihren halbstündigen Auftritt weitgehend unbeachtet. Der gutgemachte lockere Pop-Funk fand bei den rund 300, die schon mittags um fünf gekommen waren, kaum Beachtung. Selbst als »Antenne«-Moderator Jürgen Ortlieb nach dem Auftritt die Fans zum Schlussapplaus animieren wollte, kam kaum eine Reaktion. »DMF« hat — das steht nach dem Marktplatz-Set fest — mehr Aufmerksamkeit verdient.

Mit Spannung erwarteten vor allem die professionellen Festival-Beobachter den Auftritt der britischen Combo »Right Said Fred«. Rob Manzoli und die beiden Brüder Richard und Fred Fairbrass galten seit ihrem Auftauchen auf der Szene zu Beginn der 90er eigentlich eher als Studio-Tüftler denn als Live-Band; dass die drei sich mit Hilfe von Kollegen auf dem Marktplatz an »richtigen« Instrumenten zeigten, ist an sich schon bemerkenswert.

Gekleidet in schwarze Stepp-Lederhosen und -Westen brachten »Right Said Fred« eine Show, die im Wesentlichen auf den schwülstig-pathetischen Brit-Plastikpop-Sounds der 80er aufbaute. Richard Fairbrass, der Frontmann, schien gut bei Stimme zu sein und bediente die Fans, die bei diesem Konzert dichtgedrängt vor der Bühne ausgelassen tanzten, nicht nur mit den neuen Songs vom aktuellen Album »Smashing«, sondern auch mit langen Neu-Versionen der »Right Said Fred«-Superhits »Deeply Dippy«, »Don't Talk Just Kiss« und »I'm Too Sexy«.



Nach dem Ende des langen Konzertprogramms am Samstag stand fest, daß die Fairbrass-Brüder die eigentlichen Stars gewesen waren: Weder Angelique Kidjo noch Jimmy Somerville, der heiß erwartete ehemalige Kopf von »Bronski Beat« und den »Communards«, ernteten so viel Fan-Zustimmung wie »Right Said Fred«. »Färberei«-Geschäftsführer Erich Küster wußte gar von Fans zu berichten, die sich nur dieses einzige Konzert anhörten und sofort nach dem Auftritt wieder vom Marktplatz verschwanden.

Nach dem durchaus »discomäßigen« Auftritt der Popper von der Insel gab's eine vergleichsweise lange Pause. Die Mitte Reutlingens wurde jetzt immer bevölkerter — schließlich erwarteten die Zuhörer einen neuen Star im Schublädchen »Afro-Pop«. Die Sängerin Angelique Kidjo aus dem afrikanischen Benim und ihre Band sollten, so das vorauseilende Gerücht, eine exzellente Live-Show bieten.

Die Besucher beim »2. Reutlinger Marktplatz-Festival« empfanden es anders: Das ganze 75minütige Konzert über gelang es dem körperlich kleinen, aber stimmlich überraschend voluminösen Energiebündel nicht, den berühmten »Funken« aufs Publikum überspringen zu lassen: Die zu diesem Zeitpunkt vielleicht 800 Zuhörer kamen kaum in Bewegung.

Vielleicht sind die Konzertgänger in der Region durch viele dampfende Konzerte im diesem Genre — die von Youssou N'Dour oder Baba Maal sind nur zwei Beispiele - doch Ursprünglicheres, Spontaneres gewohnt als das perfektionistische Set von Kidjo. Ein bißchen arg viel »Pop« bot die Dame in ihrem Konzert, das kaum Ecken und Kanten aufzuweisen hatte — und für ein Open-air-Konzert bei schönem Wetter den meisten wohl definitiv zu wenig »Afro«.Aber: Das Solo von Schlagzeuger und Perkussionist gegen Ende des Konzerts entschädigte für so manch beliebig dahinplätschernde Durststrecke.

Enttäuscht müssen zumindest Härtefans auch vom etwas gesichtslosen Auftritt des Stars der britischen Schwulen-Szene, Jimmy Somerville, gewesen sein. Der war zwar gut aufgelegt ( »Paßt doch hierher, oder?«, kündigte er mit ironischem Lächeln seinen alten Hit »Small Town Boy« an) und zeigte sich auch stimmlich fit, brachte aber kaum Neues. Im Mittelpunkt des sehr laut abgemischten Konzerts standen die arg routiniert gebrachten alten »Bronski Beat«- und »Communards«-Hits.Und das neue Material von der Platte »Kare To Love« wirkte zumindest auf die Reutlinger Zuhörer eher stimmungshemmend. (mpg)

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