Sonntag, 2. Juli 1995

AfroBrasil Tübingen '95: Wirbelnde Trommeln aus Bahia

So ausdauernd waren die Tübinger Brasil-Fans schon lange nicht mehr: Bei der Afro-Brasil-Party war das »Foyer« selbst nachts um vier auf allen Ebenen noch proppenvoll. Und Hunderte von Hüften wiegten sich in gemeinsamer Tanzbegeisterung zum Klang der Trommeln aus Bahia.

Die treibenden Rhythmen kamen da von der »Banda do Pelo«, die das zweitägige Marktplatz-Festival des »Zentrum Zoo« am späten Samstagmittag auch eröffnete. Zum Brasil-Wochenende des »10. Internationalen Tübinger Festivals« — europaweit das größte Festival mit »Musica Popular Brasileira« — reisten diesmal noch mehr Brasilianer als in der Vergangenheit an. So kam's, daß nicht nur in den ersten Reihen die Fans schnell zu den Perkussionsgewittern der neun Musiker begeistert tanzten angeheizt von zwei muskulösen Spitzen-Tänzern mit traumhafter Körperbeherrschung. Besonders die »Samba-Reggae«Stücke der »Banda do Pelö« kamen an.



Vielen, denen das Hemd schon nach diesem ersten Konzert schweißnaß auf der Haut klebte, war der heftige, viertelstündige Regenguß vor und zu Beginn des Auftritts von Chico Science hochwillkommen.
Science ist, samt seiner reichlich schräg agierenden Truppe »Nacao Zumbi«, ohne Frage die Entdeckung des Festivals. Auf sehr eigenständige Weise verbindet der Brasil-Rapper den Trommel-Sound und die Grooves aus Bahia mit HipHop-Rhythmusstrukturen, sehr viel Bewußtsein für die Funk-Tradition — und knüppelhartem Hardcore obendrein. Das ist eine Mischung, wie es sie hierzulande weder von Platte noch live zu hören gab — unverbraucht und vor allem für die Nicht-Brasilianer im Publikum mitreißend. Chicos Landsleute waren — zumindest auf dem Tübinger Marktplatz — von dem ungewöhnlichen und für »MPB«-Verhältnisse ungewöhnlich stark US-amerikanisch geprägten Konzert nicht ganz so begeistert.

Da war das wirbelnd bunte, aber beileibe nicht so aufregende Set von Diana Miranda schon mehr nach dem Geschmack der Südamerikaner. Die langmähnige Sängerin mit Ausstrahlung hat sich schon 1993 beim Jazzfestival von Montreux in Europa vorgestellt. Obwohl die Afro-Reggae-Rhythmen auf der Bühne perfekt choreographiert waren und zum Tanzen mitrissen: Für den mit Spitzen-Konzerten verwöhnten Tübinger Festival-Besucher war's eher lau. Kollektive Tanz-Ekstase war dann wieder bei den Trommel-Orgien von »Olodum« angesagt; die 16 Musiker verwandelten den inzwischen fast überfüllten Marktplatz in ein Meer wiegender Arme.

Die Trommeln schwiegen nur kurz: Am Sonntag ging's mit einem sehr rockigen Konzert von Simone Moreno samt »Banda« weiter — und spätestens, als die zierliche Sängerin den Klassiker »Brasil« anstimmte, waren müde Fans wieder hellwach. Moreno hatte sieben erstklassige Musiker um sich geschart; vor allem der Baßmann legte bei der »MPB«-Variante von Bob Marleys »No Woman, No Cry« ein klasse Solo hin. Das Publikum war hin und weg — und bekam ein »Satisfaction« von den »Stones« als Zugabe.

»Timbalada«, eine 16köpfige »Bloco Afro«, riß danach vor allem Landsleute mit einer musikalisch wie tänzerisch perfekten Perkussions-Orgie mit. Dieser Auftritt war auch optisch das reinste Vergnügen: Alle, auch die beiden hübschen Backgroundsängerinnen, hatten nämlich am Oberkörper nur ein bißchen Farbe an...

Am frühen Abend stand dann der Superstar Brasiliens auf der Marktplatz-Bühne. Gilberto Gil und seine traumhaft sichere »Acoustic Band« hatten hundertfache Verstärkung: Die aufmerksame Brasil-Fraktion auf dem Marktplatz sang bei dem leisen, differenzierten Set von Anfang bis Ende mit. Mit dem Konzert von Youssou N'Dour ging die zweitägige Afro-Brasil-Fete zu Ende.

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