Samstag, 14. Februar 1987

LTT "Empfindungen auf dem Lande": Des Bürgers böse Empfindungen

Im Rahmen der Ausstellung »Endstation Asyl« im »Kulturschock zelle« zeigte das Landestheater Württemberg-Hohenzollern/LTT am Donnerstag in einer Reutlinger Erstaufführung »Empfindungen auf dem Lande«: Ein knapp einstündiger Monolog von Gerd Hoffmann, ursprünglich als Erzählung geschrieben.
Ein junger Polizist — in der von LTT-Oberspielleiter Johannes Klaus besorgten Inszenierung gespielt von Rolf Berg — ist von der Stadt in die Provinz versetzt worden, um dort »Wohnraum für Asylanten« zu beschaffen. Die Ereignisse von nur zwei Tagen — von der Vorbereitung bis zum Eintreffen der Asylsuchenden — werden minuziös wiedergegeben.
Zu der Unfähigkeit des jungen Beamten, die schwierige Situation (die Dorfbewohner wehren sich erbittert gegen den Zuzug von »Schwarzen«) zu meistern, kommt die Hilflosigkeit im privaten Bereich: Des Polizisten Frau lebt mit einem andern und will sich scheiden lassen.
Der Erzähler ist schüchtern, fast schon verklemmt; mit in den Stuhlbeinen verhakten Füßen sitzt er da und berichtet in einem gestelzten, meist emotionslosen Amtsdeutsch. Die Briefe an seine Frau schreibt er auf der Maschine, nur wenn er sie fragt »Liebst Du mich noch?«, tut er dies handschriftlich.
Er hat sich im Dorfgasthof ein Zimmer genommen, um die Unterbringung der 87 Fremden vor Ort zu organisieren. »Es gibt keine Umtriebe«, heißt es in einem Bericht, »die Morddrohungen gegen die Asylanten« sind nicht ernstzunehmen."
Dann wird das Gebäude angezündet, in dem die Asylanten wohnen sollen: Die Beamten verlieren zunehmend an Autorität, die Dörfler sind entfesselt. Ein Rückzug ins Private scheitert: Die Annäherungsversuche des Polizisten an die Kellnerin Marie werden kühl zurückgewiesen.
Als die Asylanten ankommen, werden sie von den Dorfbewohnern am Verlassen des Busses gehindert: »Hier kommt keiner raus!« Nach zähem Verhandeln bringen der junge Beamte (»Dass ich nichts in die Hand nehme, ist ganz natürlich. Ich bin zu jung dafür.«) und sein alternder Vorgesetzter ganze 16 Asylsuchende unter. Die Dorfbewohner beruhigen sich, die restlichen Fremden können aussteigen. Die Gefahr scheint vorüber.
Weit gefehlt: Als der Beamte einen der Asylanten stolz präsentiert — er glaubt. jetzt alles im Griff zu haben —, kommen die Dorfbewohner als drohende Phalanx wieder. Jetzt überschlagen sich die Ereignisse: Der Polizist hat den Brief seiner Frau gelesen, in dem sie ihm die Scheidung mitteilt. Als die Menschenmenge immer näher kommt, greift der Beamte zur Waffe, um einen Warnschuss abzugeben. Der »Schwarze« steht Hand in Hand mit Marie an der Tür. Ein Schuss fällt. Der Asylant bricht getroffen zusammen. Die Trennung von Politik und Privatem ist endgültig gescheitert.
Johannes Klaus hat diese Geschichte äußerst sparsam inszeniert: Ein Tisch, eine Lampe und eine Schreibmaschine sind die einzigen Requisiten. Die Aufmerksamkeit des Zuschauers richtet sich allein auf den Bericht — und der ist fesselnd genug. Rolf Berg spielt die Hilflosigkeit des kleinen Polizisten nuanciert und überzeugend; das Stück lässt allerdings keine spektakuläre Entfaltung zu. Die Besucher sahen aktuelles, beklemmend—packendes Theater.

Autor: Martin Gerner
Erstabdruck/Erstveröffentlichung: Reutlinger General-Anzeiger, 14. Februar 1987

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