Mittwoch, 23. September 1987

Bernhard Hellstern: Die Folgen eines Verbots

Zum "Flug des Fisches" - so der Titel des von Benito Gutmacher inszenierten Solostücks -  kamen nicht ganz so viele Leute, wie man es bei anderen Veranstaltungen im »Rappen« gewohnt ist. Das mag an der mörderischen Hitze gelegen haben oder am Montag; »Ein Tag  hängt immer durch«, wissen die Veranstalter. Die Anwesenden kamen in den Genuß engagierten Theaters, das aber manchmal in der Aussage ein wenig zu »oberlehrerhaft« in diesem Rahmen schien.
Ein Kind, Martin, wird von seinen Eltern in eine Ferienerholung geschickt. Dort regiert »Tante Martha«, eine von Hellstern eiskalt gezeichnete Frau, die die Kinder ohne jedes Gefühl »abfertigt«. Martin wird von den anderen gehänselt, weil er sich nicht traut, in »den Schuppen« mitzugehen, dessen Betreten streng verboten ist. Als das Kind endlich mitgeht, wird es prompt erwischt und muß zur Strafe zweihundertmal »Es ist verboten, in den Schuppen zu gehen« schreiben.
Martin lehnt sich auf, bekommt Schwierigkeiten. Beim Essen muß er Fisch hinunterwürgen, den er überhaupt nicht mag. Er bekommt Arrest und träumt, er sei ein Flugzeugentführer, der vom Himmel aus seinen Peiniger »Tante Martha« in den Kontrollturm holen und ein Fischbrötchen verspeisen läßt.
Aus dieser an sich überaus banalen Geschichte etwas zu »machen«, ist schwierig. Bernhard Hellstem schafft es, durch seine sprachliche und mimische Schauspielkunst von der Oberfläche in die Tiefe zu gehen. Die präzise Zeichnung der Typen läßt das Soziologen-Modell zu einem stellenweise ergreifenden Erlebnis werden, das tief betroffen macht.
Etwa die Figur des Martin, der eine Wandlung vom verschüchterten und verhaltensgestörten Kind hin zum selbstbewußten (auch selbstherrlichen) Flugzeugentführer und wieder zurück zum kleinen Bürger vor Gericht durchmacht. Oder die Leiterin der Ferienerholung, deren erzieherischer Wahn von Hellstem stufenweise — und in der Darstellung grandios — aufgezeigt wird. Das gipfelt in einem psychopathischen Monolog über Verbote: »Ein Verbot ist da, damit man es einhält«, meint Tante Martha und läßt sich -zigmal das Wort im Munde zergehen.
Auch die Gliederung des 70-Minuten-Stücks war gut durchdacht. Mehr an Filmmontage denn an theaterüblichen Szenen erinnernd, wurden Episoden aus der Kindheit Martins und der späteren Flugzeugentführung gemischt, mit »O-ton« eines Nachrichtensprechers — quasi als Zwischentitel — versehen und mit passender Musik unterlegt. Diese Verschachtelung erhöhte die Spannung bei den Zuschauern enorm, war doch so erst gegen Ende der Vorstellung der »rote Faden« deutlich erkennbar.
Ein Happy-End wie im Kino gibt es bei Bernhard Hellstem allerdings nicht: Martin Strom wird vor Gericht gestellt und bestraft. Für ein paar Stunden hat er aus seinem Gefängnis entfliegen können. Nur ein Traum.

Autor: Martin Gerner
Erstabdruck/Erstveröffentlichung: Reutlinger General-Anzeiger, 23. September 1987

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