"Wir setzen uns ab": Zum Gastspiel der hochkarätigen Kabarett-Truppe - eine der traditionsreichsten in Deutschland - in Tübingen waren trotz des relativ hohen Eintrittspreises fast 1000 Leute in den Festsaal der Universität gekommen. Die Texte des Programms haben Dieter Hildebrandt, Klaus Peter Schreiner und Henning Venske geschrieben, auf der Bühne standen neben Venske Renate Künter und die »Altstars« Rainer Basedow und Jochen Busse.
Fuge (von fuga; (lat.: Flucht): Flucht war das Thema. Genau wie in der musikalischen Form gab es Variationen und lockere Zwischenspiele, die nach fast zwei Stunden in das Thema wiederholender Coda mündeten. Dreh- und Angelpunkt des Abends war die »Flucht-Fuge«, in Verbindung mit dem übrigen Programm eine fast schon geniale Fusion von strengem Formprinzip mit aktuellen Spielarten des Themas. Dietrich »Piano« Paul ließ die Akteure zu Bachs berühmter c-moll-Fuge (BWV 847) eine »Inhaltsangabe« des neuen Programms singen: »Ich habe Angst, ich verstecke mich, ich lauf' davon und bin auf der Flucht.«
Wohin flüchtet der Kabarettist auf der Bühne, in zwei Stunden, und wenn möglich, auch noch so, dass es dem Publikum gefällt? »Zu den Wundern der Irrationalität«, schreibt Venske im Programmheft, »ab nach Phantasia, wo feiste Mythen schaurig-schöne Weisen singen.« Der eine fürchtet sich vor AIDS und flüchtet mit knallenden Pointen ins sexuelle Plastikzeitalter, nachdem er »seine gute Gabe Gottes eingetütet« hat. Andere verstecken sich in Uniformen oder unter einer Dienstmütze, die »das Symbol der Freiheit ist, weil sie sie bewacht.« Es ist die beständige Flucht vor der Realität, die einen Wirtschaftsprofessor so lange mit Arbeitslosenzahlen jonglieren lässt, bis am Ende 500 000 freie Stellen auftauchen. Manche tauchen gar, ziemlich verantwortungslos, ins »Zeitalter des Wassermanns« ab: Esoterik-Jünger, die das »New Age« fordern und sich mittels tibetanischer »OM«-Gesänge von der bösen realen Welt weg in die kontemplative Ruhe der eigenen Seele versenken.
Doch das nützt auch nichts, jäh wird man aus der Meditation herausgerissen, als die Leiterin eines »Eso-Shops« verkündet: »Kein Puff sahnt heute so ab. Selbst der Sondermüll flüchtet. Das giftige Zeug (»Quecksilber-Fischstäbchen«, »verstrahlte Präservative«) wird so lange auf der Schiene herumrangiert, bis »die Hundefutterfabrik frei ist«.
Zwischen den durchgespielten Fluchtphantasien immer wieder Zwischenspiele. Ein running gag, der beim Publikum besonders gut ankam, war das »TV-Ratespiel«, in dem der Kandidat Politiker-Statements bestimmten Personen zuordnen musste, manchmal 40 Jahre daneben lag und in jedem Fall, ob Sieger oder Verlierer, einen Preis erhielt. Einer wurde so plötzlich zum »Ehrenbürger von Tschernobyl«.
Die Lach- und Schießgesellschaft versteht es, wie kaum ein anderes Kabarett, »heiße« Themen unter einen Hut zu bringen, sie kabarettistisch-kritisch und bissig (In der Rundfunkanstalt: »Kann ich Herrn Goebbels sprechen?« - »Der arbeitet hier nicht.« - »Das merkt man aber nicht.«) zu bearbeiten und dabei - meistens - auch noch witzig zu sein (Venske über Nancy Reagan: »Ein Gesicht, aus dem Haarspray gemeißelt«). Natürlich ist bei diesem Pointen-Feuerwerk auch das eine oder andere Mal ein flacher Witz dabei — das geht gar nicht anders. Schade nur, dass wegen der schlechten Akustik so manches Hörenswerte im Hall unterging. Es war wirklich - im positiven Sinne konventionelles - Kabarett vom Feinsten, was die Besucher zu sehen bekamen. Kabarett? Venske schreibt in seiner Schlussbemerkung: »Nicht alles, was wir machen, ist Kabarett. Aber um ernsthafte Schwierigkeiten zu vermeiden, muss man die Leute hin und wieder glauben machen, es handle sich um Kabarett.«
Autor: Martin Gerner
Erstabdruck/Erstveröffentlichung: Reutlinger General-Anzeiger, 07. September 1987
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