Donnerstag, 17. Dezember 1987

Dietrich Kittner: Lieder, Lacher, Leid-Artikel

Es war mit Sicherheit das längste Kabarettprogramm, das jemals auf der Kleinkunstbühne des »Rappen« vorgeführt wurde. Der Hannoveraner Kabarettist Dietrich Kittner gastierte mit seinem neuen Programm "Hai-Society oder: Kein Grund zur Beruhigung" und bemerkte gleich am Anfang: "Vor zwölf kommt hier keiner raus!« Über drei Stunden — Kittner versicherte, das brandneue Material werde noch gekürzt; die Besucher dürften »heute abend Versuchskaninchen spielen« — ging es um die Mächtigen dieses Staates und deren Machenschaften.
Gleich zu Anfang demonstrierte der ehemalige Jura-Student, dass das Grundgesetz nicht immer so genau genommen wird. Otto Graf Lambsdorff, der »sich steuerhinterziehend für den Staat aufgeopfert hat«, müsste, falls er proportional zu jenem Münchner Zigarettendieb bestraft worden wäre, 90 000 Jahre Gefängnis verbüßen. Da er aber »ein Ehrenmann« und »in der ersten Instanz nicht bestechlich ist«, habe es für ihn keine Probleme gegeben.
Die Subventionspolitik der baden-württembergischen Landesregierung für Daimler Benz (»Wenn es Daimler nicht gäbe, müsste die südafrikanische Polizei zum Kindererschiessen zu Fuß gehen«) nahm Kittner mit spitzer Zunge sehr elegant auf die Schippe. Er sieht den 120-Millionen-Kredit als Anzahlung der Schwaben auf den neuen Mercedes; jeder hat 13 Mark und vier Pfennige beigesteuert. Dass nicht alles mit der gleichen Latte gemessen wird, demonstriert Kittner am Beispiel Steuerreform: »Ein Arbeiter kann da jedes Jahr 14 Tage mietfrei wohnen.«

Zur Erholung gab's zwischendurch herrlich geblödelte TV-Nachrichten (»Sie sehen die Lothar-Späthausgabe«), in denen Kanzler »Helmut der Kohl« vom Wolfgangsee aus die Gefährlichkeit der Spraydosen erkannte und die Bundesbürger bat, »alle noch im Hause befindlichen Dosen sofort zu leeren«. »Regierungssprecher Boris Becker« gab bekannt, »dass die Arbeitslosenzahlen im Vergleich zum Winter 1892« etwas zurückgegangen seien und »Flick biete für die NH-Wohnungen 4,50 DM — Über Bundeszuschüsse« werde nachgedacht.
Der Volkszählung wurde ebenfalls viel (fast zuviel, da etwas langatmig) Platz gewidmet. Kittner empfahl, sich für den Behördenweg zu entscheiden und jedes mal, wenn man etwas nicht verstanden habe, »erst einmal drei Tage mit der Familie« zu diskutieren und dann einen Brief zu schicken. »Nach zweieinhalb Jahren« könne man ja dann fragen, ob die Daten noch benötigt würden.
Überaus bissig der »Chemietransport-Koordinator«, der telefonisch die Einleitung verschiedenster Chemikalien in den Rhein regelt und nur bei einem Auftrag passen muss: »Wasserstoffdioxid ist viel zu gefährlich. Das ist unzerstörbar, das kommt immer wieder. Das kommt mir nicht in das Wasser!«
Nicht alles, was ein Kabarettist so auf der Bühne macht, ist Fiktion. Kittner schrieb einen Brief an Verteidigungsminister Wörner (»in einfachen Worten, damit Sie es auch verstehen«), in dem er die Teilnahme an einem Manöver schildert. Der Künstler hat da zufällig ein Minenkommando durcheinandergebracht und sich in Bundeswehr-Dinge eingemischt, was woanders wohl zu einem Strafverfahren geführt hätte. Aber nein, der Minister schreibt zurück, er habe Kittners Schilderungen »nicht ohne Schmunzeln wahrgenommen«. Kittner kann auch hier wieder staatsbürgerlichen Nachhilfeunterricht geben und empfiehlt den Besuchern, dem Minister doch auch einmal eine Freude zu machen!
Kittner, der wegen des Boykotts seiner Programme in' öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten vielleicht nicht so bekannt wie Hildebrandt und Co. ist, versteht Kabarett als »Bewährungsfrist für Satiriker«. Im Vorwort des Programms schreibt er: »Kabarettisten wissen: Lächerlichkeit tötet, Volkswitz kann Diktatoren stürzen. Entgegen anderslautenden On Dits ist das Gehirn noch immer eine der reizbarsten Stellen des Menschen…ich -wünsche mir weiter eins: dass viele Anstoß nehmen: Denkanstoß!« Das Denken mit dem Lachen zu verbinden, ist eine große Kunst. Kittner beherrscht sie wie kaum ein anderer.
Autor: Martin Gerner
Erstabdruck/Erstveröffentlichung: Reutlinger General-Anzeiger, 17. Dezember 1987

500 von 5000

In diesem Blog habe ich 500 von rund 5000 Artikeln und Kritiken archiviert, die ich zwischen 1984 und 2012 in verschiedenen Tageszeitungen v...