Dienstag, 27. September 1988

Manfred Mai: Ein Autor über das Büchermachen

Eine Lesung, was ist das? Vorne sitzt auf einem Stuhl der Autor und liest eine Stunde lang aus seinem neuen Werk vor: Die Besucher hören aufmerksam schweigend zu und dürfen, nachdem der Schriftsteller fertig ist, Fragen stellen, So sieht's fast immer aus.
Eine ganz andere Art von »Lesung« bot der Winterlinger Schriftsteller Manfred Mai am Freitagnachmittag vor und mit seinen sieben-bis neunjährigen »Zuhörern«. Der 39jährige ehemalige Werkzeugschleifer und Realschullehrer ist Vater von zwei Kindern und veröffentlicht neben Romanen Erzählungen, Hörspiele und Gedichte. Nach eigener Aussage »schreibt er am liebsten für Kinder«.
Das merkte man: Seine Geschichten (»Mama hat heute frei«; »Nur für einen Tag«) sind wirklich kindgerecht geschrieben, sie können bei der jungen Zielgruppe, die ja die Bücherwelt erst kennenlernt, Interesse wecken.
Mai weiß auch, dass Kinder mit einer Stunde stillem Zuhören gnadenlos überfordert sind und gescheite Fragen von alleine nicht unbedingt kommen. So ergreift er die Initiative, erzählt von sich und seiner Familie und vom Büchermachen im allgemeinen. Er hat verschiedenes Anschauungsmaterial mitgebracht: Die Kinder können den Weg einer Geschichte vom handgeschriebenen Manuskript mit vielen Änderungen über die Maschinenversion und die Korrekturfahnen bis hin zu den Druckbögen (»Immer acht Seiten auf einem Blatt«), Einbänden und zum fertigen Buch aus erster Hand mitverfolgen.
Auch wenn Manfred Mai dann einmal tatsächlich vorliest, ist alles anders: Er unterbricht immer wieder, um sein Publikum zu fragen, wie denn die Geschichte weitergehen könne. Das lässt sich natürlich nicht lumpen und macht begeistert mit. Nicht immer endet die Rätselwelt so, wie die Kinder sich das vorgestellt haben, aber möglich sind die Ideen schon.
»Wer genau liest, weiss mehr«, sagt Mai und überprüft, ob die Zuhörer aufgepasst haben. Und wie! Das Interesse der Zuhörer erlahmt auch nach über 60 Minuten nicht (Mai: »Heute morgen haben wir zwei Stunden gemacht«) und die Fragen gehen sowieso nicht aus. Was denn sein Lieblingsthema sei, wird er gefragt: »Wie man mit Leuten, speziell mit Kindern umgeht, wie man die, die am Rand stehen, die ein bisschen anders sind als andere, richtig behandelt«. Manfred Mai macht das Lesen für und mit Kindern Spaß, weil ihm Kinder meistens — Spaß machen. Dieses Vergnügen überträgt sich auch auf die Zuhörer, auf kleine und auf große.
Autor: Martin Gerner
Erstabdruck/Erstveröffentlichung: Reutlinger General-Anzeiger, 27. September 1988

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