Dienstag, 4. Oktober 1988

WLB Esslingen: Jacques Offenbach im Disney-Land

Das Gastspiel der Württembergischen Landesbühne Esslingen in der Metzinger Stadthalle ließ die meisten Besucher wohl mit zwiespältigen Gefühlen zurück: Zur Aufführung kam die Offenbach-Operette "Die Großherzogin von Gerolstein" nach der Übersetzung von Julius Hopp und der Bearbeitung von Karl Kraus, inszeniert und choreographiert von Pavel Mikulastik in einer kräftig modernisierten Fassung, deren greller Show- und Glamour-Charakter das ursprüngliche Anliegen weitgehend hinter mehr oder weniger billigen Effekten verschwinden ließ.
Das Thema: Krieg als Zerstreuungs- und Sandkasten-Spiel der Mächtigen und auf Kosten des gemeinen Volkes. Die Großherzogin von Gerolstein langweilt sich, zur Zerstreuung gibt es Krieg. Vor der großen Schlacht besichtigt die Herrscherin ihr Heer, sie verguckt sich in den Gemeinen Fritz und befördert ihn in kürzester Zeit — sehr zum Missfallen von General Bumbum — bis zum Oberbefehlshaber.
Als Fritz siegreich von der Front zurückkehrt, gesteht die Großherzogin ihm ihre Liebe. Fritz will sie aber nicht; er liebt eine andere. Die Herzogin will — genau wie Bumbum, Erziehungsminister Puck und Erbprinz Paul — Rache an Fritz nehmen, er soll ermordet werden. Im letzten Moment entscheidet sich die Herzogin anders.
Prinz Paul schickt Vaters Truppen zum Überfall auf Gerolstein, Fritz, der zur Verteidigung des Großherzogtums neuerlich engagiert wird, verliert diesmal. Die Fürstin macht ihm bittere Vorwürfe und heiratet schließlich doch den Prinzen Paul.
Was von Jacques Offenbach (1819 — 1880) als karikaturistischer Spiegel der kaiserlichen Ära gedacht war und auch so aufgefasst wurde (nach dem Krieg von 1870/71 wurde die »Großherzogin« wegen »Wehrkraftzersetzung« in Frankreich verboten und die Nazis sahen Offenbachs Musik als »entartet« an), geht durch gnadenlose Übertreibung und oft unpassende Anpassung an unsere Zeit in der Esslinger Inszenierung verloren.
Zwar ist manches witzig — etwa die »GvG-Army«-Aufschriften auf den olivfarbigen Kampfanzügen der Soldaten oder die überraschende Ähnlichkeit der Großherzogin mit der britischen Premierministerin — und der reine Unterhaltungswert stellenweise groß; zu mehr als zu bloßem Konsumieren der opulenten Ausstattung, der exzellenten Beleuchtung (Bühnenbild: Marion Eisele) und zu kurzen Lachern über die verbalen Gags kommt der Zuschauer jedoch kaum.
Zumal die stark veränderte Musik, gespielt mit Klavier, Perkussion und modernen Samplern und Keyboards, eher vom Bühnengeschehen ablenkt als es wirksam unterstützt. Zweimal wird kurz die »Habanera« aus Bizets »Carmen« zitiert, es gibt modernen Rock 'n' Roll und Disco-Musik zu hören; selbst Jazz-Klänge dürfen nicht fehlen.
Unzureichend auch die gesanglichen Leistungen. Bis auf die Rolle der Großherzogin (Cornelia Niemann) hat die Regie auf Kunstgesang verzichtet. Das ist legitim.
Dass aber der gesungene Text fast nie und Gesprochenes nur wenig mehr zu verstehen ist, weil oft alle durcheinander reden und die Artikulation zu wünschen übrig lässt, vergraulte am Freitagabend viele Zuschauer; ungefähr die Hälfte der — sowieso nicht zahlreichen — Besucher verließ die Metzinger Stadthalle in der Pause.
Vielleicht wäre auch hier, wie in so vielen Fällen, weniger mehr gewesen. So kam die Aufführung kaum über den Charakter einer Broadway-Show hinaus. Und im Aufziehen von Shows sind die Amerikaner den Europäern einfach meilenweit voraus.
Autor: Martin Gerner
Erstabdruck/Erstveröffentlichung: Reutlinger General-Anzeiger, 04. Oktober 1988

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