Ach ja, man hat es schwer als aufgeklärter Linker heutzutage; besonders dann, wenn die Ideale längst im Alltag verlorengegangen sind. Oder wenn die eigene Geisteskraft nicht ausreicht, den Widerspruch zwischen Anspruch und Wirklichkeit aufzudecken.
Wenn gar noch das eigene Früchtchen maulend fragt: »Müssen wir heute wieder tun, was wir wollen?«, dann ist das wieder »so ein Tag, da läuft alles durcheinander«.
In der Reutlinger Tonne gastierte »Keulenspiegels Theater Kabarett« mit dem Solostück »Die Gewürzrevolution«. Auf der Bühne stand Bernd Surholt, er stellte einen »gar nicht so untypischen Vertreter unseres alternativen Mittelstandes« dar, also einen jener strickjakkentragenden Volvofahrer mit Toskana-Urlaubsabo und wohngemeinschaftlicher Vergangenheit. Wohngemeinschaft? »WG's sind Durchlauferhitzer, die die meisten verlassen, weil sie nicht zum Saurier werden wollen.«
Es ist unter den bundesdeutschen Kabarettisten sehr beliebt, neben mehr oder weniger direkt politischen Themen dem größten Teil ihres Publikums den Spiegel vorzuhalten. Die Themenstellung, in diesem Fall: »Auch Alternative müssen nicht unbedingt heilig sein«, ist meist voll aus dem Alltag gegriffen, viele Besucher lachen und die meisten können in den kabarettistisch verzerrten Szenen auch eigenes Verhalten wiedererkennen.
»Die Gewürzrevolution« scheint eine Anhäufung sämtlicher Mittelmäßigkeiten zu sein, derer Menschen, auch sogenannte alternative, fähig sind — dazu dann noch eine Menge Klischees über alle möglichen »Typen«, die die bunte Szene hervorgebracht hat. Kann man daraus Unterhaltung machen?
Man kann, man soll — nur, bitte, nicht so oft! Ob der aus vielen Einzelfacetten zusammengesetzte »typische Alternative« nach -zig Kabarettprogrammen (inklusive der unvermeidlichen »New Age«-Variante) noch besonders interessiert, darf bezweifelt werden. Die knapp dreißig Besucher amüsierten sich nur schleppend, zwischen den Pointen zog sich die »Gewürzrevolution« doch arg in die Länge. Längst von der Realität überholt war die lange »Privatradio«-Szene gegen Ende des Programms, bei der Surholt abwechselnd einen Moderator eines »Mittagsmagazins« und einer Spätsendung darstellte: In Wirklichkeit ist's noch viel seichter.
Autor: Martin Gerner
Erstabdruck/Erstveröffentlichung: Reutlinger General-Anzeiger, 12. April 1989
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