Samstag, 22. April 1989

Jusuf Naoum: Unglaubliche Geschichten

Fast meinte man, den Geschichten aus Tausendundeiner Nacht zuzuhören — auch wenn's nicht Scheherezade war, die erzählte, und der »Büchermarkt« in der Stadtbibliothek auch mit viel Phantasie kaum orientalisches Flair ausstrahlte: Die Begebenheiten aber, die Abu-al-Abed erlebte, so der Name des Protagonisten der verschiedenen frei erzählten Geschichten des libanesischen Schriftstellers und Geschichtenerzählers Jusuf Naoum, waren wirklich unglaublich.
Da wurde aus dem Leben eines Schafschmugglers erzählt; ein »anständiger Beruf«, der viele mehr oder wenige brave Familienväter ernährt. Das Geschäft baute, so Abu-al-Abed durch den Mund von Jusuf Naoum, auf den erheblichen Schaf-Preisunterschieden zwischen der Türkei und Syrien auf: Billiger Einkauf in der Türkei. Verkauf in der Heimat mit »500 Prozent Aufschlag«. Wahlweise umgekehrt, wenn die offiziellen syrischen Schafs-Preise mal niedriger als in der Türkei sein sollten. Das windige Geschäft platzte, als die beiden Länder einen Einheitspreis für Schafe vereinbarten…
Der Beruf des Geschichtenerzählers, so Naoum, hatte im Libanon eine lange Tradition, bevor er endgültig vom Fernsehen verdrängt wurde. Der Geschichtenerzähler war eine Art »Mädchen für alles«, er mußte sowohl reine Unterhaltung als auch Historisches liefern können, hatte die Freiheit des Narren, die Mächtigen im Lande auch mal kritisieren zu dürfen, und erfüllte mit Marionettenspiel und ähnlichem auch klassische Variete-Funktionen.
Bezahlt wurde er vom Besitzer des Kaffeehauses, wo man sich zum Zuhören traf. Heute stehen Fernseher in den Ecken — viele Parallelen also beispielsweise zum griechischen »Karagiosis«-Schattentheater, das man im letzten »Theatersommer« in der »Tonne« sehen konnte.
»Ich erzähle immer nur die Wahrheit«, sagt Jusuf Naoum mit verschmitztem Lächeln - für die Besucher des in der »Literatur im Gespräch«-Reihe veranstalteten Abends wurde es manchmal schwierig, Dichtung und Wahrheit zu unterscheiden. Aber darum geht es ja eigentlich gar nicht; Hauptsache, die Story ist gut.
Der Erzähler und Schriftsteller Naoum lebt seit 1964 in der Bundesrepublik und arbeitete, bevor er 1983 freier Schriftsteller wurde, als Kellner, Masseur und medizinischer Bademeister. »Das Geschichtenerzählen habe ich von meiner Mutter«, sagt er, und bevor man's merkt, bindet Naoum einem den nächsten Bären auf: Mama ist nämlich äußerst agil, sie »sammelt« Bischöfe. Siebenmal geschieden ist sie schon, und hat »20 Bischofshüte« im Schrank!
Zwischen den Geschichten, die gemäß der Tradition, daß man dann aufhören soll, wenn's am spannendsten ist, immer wieder unterbrochen wurden, machten die Besucher akustische Bekanntschaft mit dem »Oud«. Das ist das meistverbreitete arabische Instrument, das — normalerweise fünf- oder sechssaitig — mit einem gehärteten Federkiel gespielt wird.
Die Melodien, die der in Deutschland studierende Syrer Fouad Awad auf einer zwölfsaitigen Vorläuferin der europäischen Laute und der Gitarre spielte, waren vielen sicher fremd: Die arabische Musik kennt keine Harmonien im europäischen Sinn, es gibt Vierteltöne und dreihundert Tonarten. Die Musik half zusätzlich beim Wegdenken der strengen Stadtbibliothek-Architektur — da fehlten nur noch das Wasserpfeifchen und
Tee für alle!
Autor: Martin Gerner
Erstabdruck/Erstveröffentlichung: Reutlinger General-Anzeiger, 22. April 1989

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