Samstag, 16. September 1989

Edith Krispien: Eine etwas andere Lesung

Eine Autorenlesung zeichnet sich gewöhnlich dadurch aus, dass ein Schreiber vor mehr oder weniger ehrfürchtigen, interessierten und belesenen Zuhörern eine kleine Einführung in das zu verkaufende Buch gibt, Passagen daraus vorliest und anschliessend mit den Anwesenden diskutiert.
Als die Esoterik-Autorin Edith Krispien am Donnerstagabend in die Reutlinger Osiander-Filiale gekommen war, um ihr neues Buch, »Der erste Kreis«, vorzustellen, war alles anders: »Wir werden etwas erleben! Ich verspreche es Ihnen«, meinte die Autorin zu den knapp 40 Zuhörern, und deutete das weltweit aufgekommene Interesse für esoterische Fragen als einen Entwicklungsprozess. »Die Menschen werden geistig erwachsen«, war da zu hören, »sie kommen aus der Phase heraus, wo man sie bevormundet«.
Es geht darum, »selber zu seinem Über-Ich zu gelangen«, aber »das ist nicht mehr so einfach zu machen«. Ohne Anleitung wird's nichts damit. Gei sei Dank gibt es jetzt das Buch von Edith Krispien.
Der Autorin lag nichts ferner, als »für das Buch zu werben, das hier vorne ausliegt«. Zunächst erläuterte sie drei Bewusstseinszustände, die Interessierte mit Hilfe ihres Buches erreichen können: Ein »Körperbewusstsein«, ein »Traumkörperbewussdtsein« und ein »körperloses Bewusstsein«. In diesem Zusammenhang wurden Bibelstellen vorgelesen: die Autorin versicherte wortreich, dass sie keine Missionarin sei, und versuchte zu erklären, worum es ihr statt dessen gehe. Diese Ausführungen waren aber wohl nicht nur für den Berichterstatter unklar — in der Runde zeigte sich manch kritisches Gesicht.
Nach diversen Vergleichen westlicher mit östlichen »Christuskörpern« — damit sind die zwei grossen unterschiedlichen religiösen Strömungen gemeint: hier Christ,' da Buddhist — und Kernsätzen wie »Jeder Mensch wird dahin geführt, wo er geistig hingehört«, ging's in die Praxis: »Sie brauchen keine Angst zu haben, wir führen das alles«, meinte die Autorin, und führte Willige mit Suggestiv-Stimme zur Ruhe.
»Träumen ohne einzuschlafen«, war das Motto, und so »konzentrieren wir uns auf die Aussenwelt«. Die Schüler machten einen Rundflug über Reutlingen, lauschten im Körper, »wo alles so wunderbar geworden ist«, auf dem Fluss der Blutkörperchen und atmeten transzendent vom »Steissbein" bis zu den Augenbrauen«. Gebeten, sich intensiv die Farbe »gelb« vorzustellen (es darf auch eine beliebige andere sein…), spant der physische Körper der Anwesenden schon bald auf einer »selbstgestalteten Wiese« herum, wo ein Bach plätschert und der Himmel blau ist. Eine Schnulze von Neil Diamond lieferte Hintergrundmusik.
Bei »Grün«, »leuchtend wie ein Smaragd, bei dem das Licht angeknipst ist«, ging es mit dem Traumkörper in den Wald, danach ohne Körper in die Lüfte »über einen Meeresstrand, wo die Vögel durch uns hindurchfliegen«.
»Als geistesbewusste Wesen« durften sich alle noch einmal »selber grüssen«, bevor es auf den grünen Teppichfilz der Buchhandlung zurückging.
Die Autorin fragte bei den Anwesenden nach, wie es war: Wo eine Zuhörerin »Waldgeistern« begegnet war, gab eine andere an, noch nicht mal das anfängliche »Gelb« richtig sehen zu können. Jetzt war die »Lesung« beendet, und alle begaben sich in das ziemlich ernüchternde Diesseits — nicht ohne den guten Rat von Edith Krispien nach Hause zu nehmen, es »doch mal selber zu versuchen«.
Autor: Martin Gerner
Erstabdruck/Erstveröffentlichung: Reutlinger General-Anzeiger, 16. September 1989

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