Samstag, 9. Dezember 1989

Frederik Hetman: Mythen helfen bei der Sinnsuche

Mit Frederik Hetmann haben Stadtbibliothek und Volkshochschule Reutlingen zum Abschluß ihrer »Einfach fantastisch«-Lesungsreihe einen Autor eingeladen, der nur unter anderem im »Fantasy«-Bereich arbeitet. Der 1934 in Breslau geborene, mehrfach preisgekrönte Autor hat beispielsweise irische und andere Märchen gesammelt und herausgegeben, eine (für Jugendliche gedachte) spannende Biographie über Che Guevara geschrieben und eine noch viel spannendere über den Songpoeten Bob Dylan.
Hetmanns Arbeiten in diesem Bereich sind fließend zwischen (exakt recherchierter) Realitätsschilderung und Fiktion angelegt und so alles andere als trockene Reihungen von Lebensstationen.
Vor knapp 50 Zuhörern las Hetmann (der eigentlich Hans-Christian Kirsch heißt) aus seinem 1990 veröffentlichten phantastischen Roman »Im Haus der gefiederten Schlange«. Der ist Teil einer Trilogie; der erste Band, »Madru oder der Große Wald«, erschien schon vor neun Jahren.
»Seit 15 Jahren arbeite ich an den Büchern«, berichtete der Autor, »das dritte ist zu zwei Dritteln fertig«. Mit »Madru« habe er einen Märchenroman schreiben wollen, der dritte Band sei als »realistische Fantasy-Geschichte« geplant — das »Haus der gefiederten Schlange« ist eine mythenschwangere Geschichte, in der Hetmann den Gilgamesch-Mythos verarbeitet hat.
Thema des Buchs, aus dem Hetmann rund 70 Minuten lang mit routinierter, die Konzentration fördender Stimm-Dramaturgie vorlas, ist die Identitätsfindung Alders mit Hilfe von Tarock-Karten. Alder ist der Sohn von Madru, um den es im ersten Band geht.
Hetmann entführte die Zuhörer in andere Welten, erzählte in ungemein poesievollen, stellenweise fast hymnischen Sätzen, in denen er »die unterschiedlichsten alten Mythen mit Dingen, die uns heute interessieren, verknüpft«.
»Wenn sie ganz dringende Fragen haben nach dieser merkwürdigen Geschichte, dürfen Sie die jetzt loswerden«, schmunzelte Hetmann nach der Lesung. Der Autor wußte natürlich genau, daß kaum einer sich trauen würde — und beantwortete ungestellte Fragen. Es gehe in der Trilogie im Grund um drei Probleme unserer Zeit: Den »zunehmenden Verfall an den Rausch« (damit »meine ich nicht nur legale wie illegale Drogen«), die ökologische Zukunft und das sich wandelnde Verhältnis zwischen Frauen und Männern seien die eigentlichen Themen der Bücher.
Autor: Martin Gerner
Erstabdruck/Erstveröffentlichung: Reutlinger General-Anzeiger, 09. Dezember 1989

500 von 5000

In diesem Blog habe ich 500 von rund 5000 Artikeln und Kritiken archiviert, die ich zwischen 1984 und 2012 in verschiedenen Tageszeitungen v...