»Ich habe seit 13 Jahren keine Talkshow im Fernsehen gemacht. Als ich zugesagt habe, wußte ich nicht, was auf mich zukommt. In Reutlingen bin ich in die Falle gegangen.« In der Tat unterschied sich die äußere Form dieses Abends der »Menschen und Themen«- Gesprächsreihe mit dem Lyriker und Essayist Reiner Kunze nur wenig von einer TV-Befragung. Der Autor war am Mittwochabend im Gemeindesaal der Heilig-Geist-Gemeinde zu Gast: vor ungefähr 130 interessierten Zuhörern beantwortete Kunze Fragen von Bernhard Bosold und Dr. Norbert Vogel.
Die beiden Moderatoren wollten von dem Schriftsteller viel wissen, fragten präzise und hatten sich überlegt, was sie tragen wollten. So wurde der Talk-Teil des in Zusammenarbeit mit dem Katholischen Bildungswerk veranstalteten Abends trotz fast zweistündiger Dauer nicht langweilig — im Gegenteil.
Kunze, -1933 in Sachsen geboren, musste die DDR 1977 verlassen, nachdem er sein ideologiekritisches Buch »Die wunderbaren Jahre« bei einem westdeutschen Verlag veröffentlichen ließ. Was hat ihm am meisten zu schaffen gemacht? »Dass das >Leben mit der Lüge< zum Überleben in der DDR gehört«, meint Kunze. »Diese militante Arroganz: Man war ein Nichts, die anderen hatten immer recht.«
Der Lyriker meinte, dass er und seine Frau von alleine nie an eine Ausreise gedacht hätten. Der West-Start sei für ihn, der »außerordentlich privilegiert« gewesen sei und viel Hilfe erfahren habe, kein Problem gewesen: »Ich habe keine Illusionen gehabt.«
Über DDR-Eigentümlichkeiten des Schriftsteller-Alltags ließ sich Kunze ebenfalls aus: »In der DDR ist es wichtig, dass wenigstens ein Exemplar des Manuskripts nach draußen kommt«, meinte er und erzählte, wie er einmal ein ganzes Buch auf dünnes Papier geschrieben und dieses dann in 20-Gramm-Einheiten per Brief in die Bundesrepublik an verschiedene Adressen geschickt habe. Der Verlag setzte dann die literarischen Mosaiksteinchen wieder zu einem Buch zusammen.
Ein anderer Fragenkomplex befasste sich mit dem Ende des »Prager Frühlings« (»In Thüringen sahen wir die sowjetischen Truppen wochenlang vorher im Wald«), den aktuellen Entwicklungen in der CSSR und seiner Übersetzertätigkeit.
Nach Kindheitserinnerungen befragt, reagierte Reiner Kunze ausweichend: Er habe weder an den Kriegsausbruch noch an das Kriegsende besondere Erinnerungen — »das war für einen sechs- oder zwölfjährigen Jungen kein gravierendes Erlebnis«. Eine kritische Haltung gegenüber der SED habe er beim Parteieintritt 1949 ebenfalls nicht gehabt, »das waren die anderen«, die »die Hitler-Bilder an der Wand gegen solche von Stalin ausgetauscht haben«. Das Arbeiterkind Reiner Kunze sollte Schuhmacher werden, kam dann aber auf Partei-Empfehlung in die Oberschule.
Natürlich musste Kunze auch etwas zur DDR-Wende sagen: Er bedauere es nicht, die Ereignisse nicht in der DDR erlebt zu haben: ob die Zukunft eine »Wiedervereinigung« oder konföderiertes Zusammenleben bringe, könne er nicht beurteilen, »
»Worauf es jetzt ankommt, ist, dass die Menschen in der DDR frei und geheim abstimmen können.« Niemand hätte ein Recht, diejenigen DDR-Bürger, die nicht in ihrer Heimat geblieben sind, zu verurteilen. »Wer dort Jahrzehnte gelebt hat, hat ein Recht, sein Schicksal selber zu bestimmen«, meinte Kunze und wies darauf hin, dass auch die, die ausgereist sind, zu den Veränderungen beigetragen hätten. Mitleid »mit denen, die jetzt abserviert werden«, habe er nicht, meinte der Lyriker: »Ich habe keine Beziehung zu denen. Ich wünsche nur, dass sie bald nicht mehr im Weg stehen.«
Das die Bundesrepublik tragende Gesellschaftssystem »ist relativ zu dem, was wir bis '77 erlebt haben, das menschlichere System, das dem einzelnen Menschen mehr Entfaltungsmöglichkeiten gibt». Nach den »Folgekosten« des westdeutschen Lebensstils gefragt. stellte Kunze eine »Leere« fest, die viele Briefeschreiber nach dem Sinn ihres Lebens fragen ließe. »Junge Menschen haben teilweise die Fähigkeit verloren, sich zu freuen«, beklagte der Autor und wies auf die »Verzerrung der Wirklichkeit durch die Medien« hin.
»Es geht nicht darum, ein Thema aufzugreifen, sondern ums Erleben«. Kunze reagierte damit ein wenig verärgert auf die Frage, ob Ökologie ein Thema für ihn sei. Auch seien seine Kinderbücher »entstanden, weil sie mir eingefallen sind«. Für Kinder schreiben bedeute, »sie auf die ganze Traurigkeit des Lebens vorzubereiten, ohne dass sie traurig werden«.
In der Lesung, die sich der professionell geführten Gesprächsrunde anschloss, las Reiner Kunze neben 20 kurzen Gedichten, die sehr dicht manchmal absurde Wendungen nehmen, auch einige Geschichten. Etwa »Clown, Maurer oder Dichter«, wo der aufgebaute Kartoffelkuchen-Turm seines Sohnes dazu dient, dessen beruflichen Werdegang vorherzusagen. Oder »Fünfzehn«; dieser Text fängt so an: "Sie trägt einen Rock, den kann man nicht beschreiben, ein einziges Wort wäre zu
lang…"
Autor: Martin Gerner
Erstabdruck/Erstveröffentlichung: Reutlinger General-Anzeiger, 08. Dezember 1989
Freitag, 8. Dezember 1989
Reiner Kunze: »Die andern hatten immer recht«
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