»Zehn Gebote der Erotik«
Wie im Gehölz ein Apfelbaum
Ist mein Liebster unter den Jünglingen
In seinem Schatten sitz' ich mit Lust
Seine Frucht
schmeckt süß meinem Gaumen
(Hohes Lied 2,3)
Die Asperger Künstlerin Margit Lehmann hat die Bibel illustriert. »Bibelbilder« ist der unverfängliche Titel ihrer Ausstellung im Reutlinger Fetzer-Buchladen. Der Untertitel geht dann schon genauer zur Sache: »Die zehn Gebote der Erotik« heißt er. Das letzte Wort fehlt im Veranstaltungsheft zu den Landeskunstwochen, weil ein Mitarbeiter der Drukkerei es vor seinem religiösen Ethos nicht verantworten konnte, das Wort »Bibel« mit »Erotik« in dieselbe Zeile zu setzen. Was hätte der Mann gesagt, wenn er die Zeichnungen von Margit Lehmann zum Thema gesehen hätte?
»Sie tun es alle, und alle tun es gern« hat die Künstlerin zum Motto dieser Serie erkoren. Klar — die meisten Menschen können diesen Satz wohl so unterschreiben — aber drüber reden wollen die meisten nicht, und Sex im Zusammenhang mit Religiosität und gar noch dem Heiligen Buch zu sehen: igittigitt! '
Margit Lehmann hat das Alte Testament genau und vor allem mit Lust gelesen und einschlägige Stellen gezeichnet. Doch, doch, Sexualität kommt da schon vor, bei den Sprüchen Salomos, in der Schöpfungsgeschichte und im Hohen Lied sowieso. Wer's nicht glaubt, der lese nach. Zehn deftige bis derbe, immer sinnenfrohe und eindeutige Zeichnungen zu zehn Textstellen, nicht nur aus der Bibel, sondem auch auf die Bibel gemalt. Skandal? Überhaupt nicht — der Zusammenhang zwischen den alten Texten und den optischen Assoziationen von Margit Lehmann wird so viel deutlicher.
Zu deutlich, als daß sich erschreckte Betrachter auf »verrückte Künstlerphantasien« einigen könnten. Voller zeichnerischer, lustbetonter Phantasie ist lediglich die Umsetzung der Bibelstellen.
Thematisch hat sich die Illustratorin genau an die Vorlage gehalten — ob es jetzt um die Töchter Loths (»Unser Vater ist alt, und ist kein Mann mehr auf Erden, der zu uns eingehen möge nach aller Welt Weise. So komm, laß uns unserem Vater Wein zu trinken geben und bei ihm schlafen, daß wir Samen von unserem Vater erhalten«) und deren Inzest geht, oder um andere »unheilige« Stellen.
Die Künstlerin hat auf die Seiten einer Bibel von 1745 weiße Grundierung aufgetragen, die alles erklärenden Stellen extra markiert und die dann mit kräftigem, ausdrucksstarkem Strich in Mischtechnik bebildert — farbenfroh, voll sinnlicher Ausstrahlung und mit viel Liebe zum Detail.
Bei der Ausstellungseröffnung am Montagabend reagierte keiner der Besucher mit Empörung wie anderswo. Sollten die fundierten Einführungsworte von Ludwig Bez (Freudental), die im wesentlichen versuchten, eventuellen Protest abzuschwächen und die Arbeit Margit Lehmanns zu rechtfertigen, ausgerechnet im pietistischen Reutlingen völlig unnötig gewesen sein?
Autor: Martin Gerner
Erstabdruck/Erstveröffentlichung: Reutlinger General-Anzeiger, 18. September 1991
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