Vom Leben der schreibenden Schwestern Charlotte, Emily und Anne Bronte erzählte Elsemarie Maletzke im Großen Studio der Reutlinger Stadtbibliothek. Rund 40 Zuhörerinnen und Zuhörer kamen zu der vom Jacob-Fetzer-Buchladen in Zusammenarbeit mit der Bibliothek veranstalteten Lesung, die keine war: Die Frankfurter Journalistin, Herausgeberin und Buchautorin verzichtete nämlich weitgehend darauf, aus dem "Leben der Brontes" (erschienen 1988 in der Frankfurter Verlagsanstalt, jetzt als Fischer-Taschenbuch erhältlich) vorzulesen und erzählte lieber frei. Weil sie das mehr als eineinhalb Stunden locker, spannend und mit Humor tat, kam beim Publikum Langeweile erst gar nicht auf.
Am Anfang schilderte die Bronte-Expertin — sie hat schon Charlottes Briefe »Über die Liebe« und Jugendarbeiten des literarischen Trios herausgegeben — die unwirtliche Gegend in und um Haworth in der englischen Grafschaft Yorkshire. Die hygienischen Verhältnisse im Heimatort der Pfarrerstöchter müssen Mitte des 19. Jahrhunderts schlimm gewesen sein; »Cholera und Schwindsucht waren an der Tagesordnung«, meinte Elsemarie Maletzke.
Die Bronte-Biographin erzählte unter anderem vom Vater der Schriftstellerinnen, einem irischen Dickschädel und Waffennarr, der »ewig kränkelnd alle seine Töchter überlebte«. Maletzke schilderte geschickt das Leben der Brontes im sozialen Kontext der viktorianischen Zeit; beispielsweise machte sie deutlich, dass Charlotte, Emily und Anne »keine andere Wahl hatten, als zu heiraten oder Gouvernante zu werden«. Die Zeit in einem der zahlreichen Internats-»Institute« war schlimm. »Winters war das Waschwasser gefroren, es gab drakonische Strafen und schlimmes Essen«.
Die harte Kindheit und Jugend der anfangs unter Pseudonymen schreibenden Schwestern — Maletzke: »Vorherrschende Meinung
war, dass eine Frau zwar schreiben können muss, es aber den Männern überlässt« — sorgte für feste Bindungen, für Rituale und Spiele, zu denen die Außenwelt keinen Zugang hatte. Die Phantasien um »Angria« und »Gondal«, imaginäre Gegenden, wo die Schwestern in ihrer Vorstellung als »Groß-Schutzgeister« die Geschicke leiteten, dauerten jahrelang.
Erst kurz vor ihrem frühen Tod wurden die Brontes berühmt: Charlotte, die kämpferischste der drei, veröffentlichte 1847 »Jane Eyre«; »Shirley« und »Vilette« folgten. Annes »Agnes Grey« kam ebenfalls 1847 heraus, ein Jahr später »The Tenant of Wildfell Hall«. Emily schrieb mit »Wuthering Heights« das wohl bekannteste Werk des Bronte-Trios.
Die Besucher hörten Elsemarie Maletzkes Erzählungen aus einer anderen Welt bemerkenswert konzentriert zu, sparten nicht mit Beifall und genossen zum Schluss eine vom British Council in München zur Verfügung gestellte Videokopie einer BBC-Produktion über die Brontes.
Autor: Martin Gerner
Erstabdruck/Erstveröffentlichung: Reutlinger General-Anzeiger, 07. Mai 1992
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