Bevor die äußerlich im Vergleich zu früheren Jahren stark gewandelte Amerikanerin (ein durchgestylter Blondschopf verkauft sich halt in MTV besser als ungeschminkte Natürlichkeit) mit vier technisch versierten Kollegen an Gitarre, Baß, Keyboards und Schlagzeug die Bühne enterte, versuchte Julian Dawson — ein ewiger Geheimtip — das Publikum in Schwung zu bringen. Dem gefielen die folkigen Töne, die Dawson nur mit akustischer Gitarrenbegleitung sang, nicht so recht. Der Beifall war mager.
»Heavy« sang Melissa Etheridge zu Beginn ihres Konzerts, das bis auf akzentuierte Beleuchtung völlig ohne Show-Effekte auskam; »Heavy« könnte auch, vielleicht mit einem Ausrufungszeichen dahinter, das knappe Fazit des Stuttgarter Gastspiels lauten.
Unter den rund 20 Songs, die die fünf Musiker mit Uhrwerkspräzision spielten, waren nur drei leisere, verhaltenere Titel — besonders gelang »You can sleep while I drive«. Rotzige, verzerrte Gitarrenklänge von dem leider viel zu wenig solistisch spielenden Rob Allen und ein fast schon brachial abgemischtes Schlagzeug (technisch exzellent und musikalisch vielseitig bedient von Mauricio »Fritz« Lewak) beherrschten neben der rauchigen, durchdringenden Stimme der Lehrerstochter das nicht sehr transparente Klangbild in der Halle.
»Angel« spielte Melissa Etheridge, »The boy feels strange«, »Must be crazy« oder »Occasionally«. Diese und andere Lieder wurden von den Zuhörern heftig beklatscht — so richtig Stimmung mit einem Meer hochgereckter klatschender Hände kam aber nur bei den beiden großen Hits der auf der Bühne hart arbeitenden Frau auf: Die Textzeilen von »Bring some water« und »Like the way I do« wurden von den meisten Fans unisono mitgesungen.
Seit 1985, als der blonde Rockstar noch unbekannt und dunkelhaarig in der Clubszene von Los Angeles von »Island Records«-Boß und Bob-Marley-Förderer Chris Blackwell entdeckt wurde, hat sich einiges getan.
Aus der schüchtern wirkenden Songwriterin ist eine (Blues-)Rockmusikerin geworden, die auf der Bühne die Fäden souverän in der Hand hält, locker mit ihren Fans scherzt und obligatorische Sprüche wie »Schduddgahrd, I love you all« vergleichsweise glaubhaft vom Stapel läßt.
Das Konzert war ohne große Höhepunkte (und nur einer Zugabeforderung) das Eintrittsgeld wert. Nur: Wissen die Damen und Herren Rockmusiker nicht, daß ein Fan nur dann weiter Platten kaufen wird, wenn er die auch hören kann? Über die extreme Lautstärke im Kongreßzentrum konnten sich nur Hörgeräte-Akustiker in Erwartung neuer Kunden freuen. (mpg)