Freitag, 7. Mai 1993

Charlotte von Mahlsdorf: Ein ganz normaler Transvestit

»Damit das klar ist: Ich bin ein Transvestit. Mein Geschlecht hätte ich nie umoperieren lassen. Ich bin ein vollkommen weiblicher Charakter in einem Jungenkörper.«
Charlotte von Mahlsdorff alias Lothar Berfelde, von Rosa von Praunheim filmisch präsentiertes (Ost-)Berliner Original, war am Mittwochabend Lesungsgast im mit 90 Zuhörern fast überfüllten Reutlinger Jacob-Fetzer-Buchladen. Klar, aus ihrem Buch zum Film »Ich bin meine eigene Frau« las sie auch.
Über weite Strecken der zweieinhalbstündigen Veranstaltung aber plauderte Charlotte locker, sehr selbstbewußt und in stetem Fluß aus ihrem Leben — und dabei machte die nicht ganz echte Dame dauernd und sehr nachhaltig Werbung für ihr Lebenswerk, ein Gründerzeitmuseum in Berlin-Mahlsdorf.
In diesem Zusammenhang erwies sie sich bei ihrem einleitenden, beinahe halbstündigen Vortrag über die Geschichte der Tonträgerherstellung von einst überaus firm in Sachen Oldtimer-Technik. Anhand eines mitgebrachten Schellack-Grammophons erläuterte Charlotte fachkundig den Unterschied zwischen Seiten- und Tiefenschrift, zwischen normaler und »Starkton«-Platte, ließ die irritierten Zuhörer gar der »Parade der Zinnsoldaten« lauschen…
Dem Filmteam um Rosa von Praunheim zollte sie höchstes Lob: »Mach' mal einer so 'n Film über 64 Jahre Leben in 90 Minuten!«
Charlotte von Mahlsdorf berichtete von einem Skinhead-Angriff auf ihr Museum und blendete zurück in die Nazizeit. Die Besucher erfuhren, wie sie bei einem Trödler-Ehepaar ihre Leidenschaft für alte Sachen entdeckte, davon, daß sie sich gegen Kriegsende im Keller des Paars verstecken durfte und im weiteren Verlauf dann von den Mechaniker-Arbeiten, die Charlotte für die russischen Besatzer ausführte.
Unter die Oberfläche der Probleme, die sie als Transvestit sowohl unter Hitler wie später in der DDR gehabt haben mußte, ging die Autorin nicht. »Ein Coming out hatte ich nie nötig, ich war wie ich bin«, meinte von Mahlsdorf einmal; aus »Ossi«-Sicht »war die DDR unser Kriegsgefangenen-Lager«.
Da war ihr das Museum offensichtlich wichtiger: Sie berichtete umständlich von den Steuer-Gängeleien, als Schalck-Golodkowski noch was zu melden hatte — und stolz davon, daß ihr der Berliner Senat 1982 das »Verdienstkreuz am Bande des Verdienstordens der Bundesrepublik« für ihre Sammlerarbeit verlieh. Die Geschichte der kompletten Wirtshaus-Einrichtung in ihrem Museum in Mahlsdorf lieferte sie ebenso wie — in epischer Breite — die der dazugehörigen Kneipe.
Der Plausch war nett. So nett, daß einige Zuhörer die Augen schlossen. Andere versuchten rutschend ihre Sitzfläche zu entlasten. Der Beifall für die unspektakulären Geschichten war laut, Charlotte von Mahlsdorf zur Signierung — »die Gelegenheit ist günstig« - ihres Buches bereit.
Autor: Martin Gerner
Erstabdruck/Erstveröffentlichung: Reutlinger General-Anzeiger, 07 Mai 1993

500 von 5000

In diesem Blog habe ich 500 von rund 5000 Artikeln und Kritiken archiviert, die ich zwischen 1984 und 2012 in verschiedenen Tageszeitungen v...