Donnerstag, 21. September 1995

Die Fantastischen Vier: HipHop für Kopf und Beine

Heftiger Krach, kleine Jungs mit böser Attitüde, die irgendwelche Wortsilben herausschreien, zwei Plattenspieler für den DJ und die »Live«-Musik aus der elektronischen Computer-Retorte: So oder so ähnlich läuft das Gros der HipHop- und Rap»Konzerte« ab.

Selbst Formationen, die auf Platte Qualität ablieferten — wie etwa »Gang Starr«, »US 3« oder Guru mit seinem »Jazzmatazz«-Projekt — versagten, wenn es um die Umsetzung der Studio-Basteleien auf die Bühne ging.

Wie schön, dass die »Fantastischen Vier« nicht den Fehler machen, ihre Platten 1:1 reproduzieren zu wollen. Jetzt stellten SMUDO, Thomas D., DJ Hausmarke und Sampler-Freak And. Ypsilon in der Stuttgarter Villa Berg für die »SDR3 Club«-Mitglieder ihre frisch erschienene CD »Lauschgift« vor — und lieferten ein »richtiges« Konzert, bei dem (bis auf das wegen einer Fernsehaufzeichnung viel zu grelle Licht) eigentlich alles stimmte.

Dass die Texte der neuen Songs wohlüberlegt, witzig und teilweise mit erstaunlich viel philosophischem Tiefgang geschrieben worden sind, merkten die Fans nicht nur beim Anhören der Platte (die übrigens in nullkommanichts auf Platz zwei der deutschen Hitparade schoß), sondern eben auch live: SMUDO und Co. ließen ihre Reime nicht nuschelnd auf die Besucher herabregnen, sondern artikulierten sehr gut verständlich. Und HipHop lebt halt genau davon: Sind die Wortgebilde nur verbale Seifenblasen oder nicht zu verstehen, kann man die ganze Sache vergessen.

Neben den »Rhymes« stehen gleichberechtigt die »Beats«, die möglichst »groovigen«, sprich einfallsreich-spannungsvollen Rhythmen. Auch hier erwiesen sich die »Fantastischen Vier« mit hervorragender Unterstützung der fünf Hamhurger Musiker von »Disjam« an herkömmlichem Rock-Instrumentarium als wahre Meister. So goutierte das buntgemischte Publikum beispielsweise eine überaus jazzige Version vom »Tag am Meer«, einen im Vergleich zur »Lauschgift«-Platte noch experimenteller und
psychedelischer angelegten »Krieger«.

Die »Fantavier« spielten das neue Material fast komplett in abgeänderten, puristischeren Arrangements, »alte« Hits wie »Ganz normal« oder »HipHop Musik« genauso wenig langweilend noch dazu. Klar, daß die Publikums-Begeisterung bei der ersten Single-Auskopplung »Sie ist weg« am heftigsten war.

Song-Autor Michael Beck alias Hausmarke hat die verlorene Liebe, über die er in diesem Lied berichtet, allerdings wohl noch nicht verwunden. Als ihn seine Kumpels in der Anmoderation foppen, reagiert der ansonsten — wie die anderen drei — gelöste und gutgelaunte Platten-Experte plötzlich verspannt: »Fangt schon endlich an«, motzt er unwirsch und mit grimmigem Gesicht. Die Live-Version kommt dann wesentlich härter und direkter als das Studio-Stück, mit einem alten »Moog«-Synthesizer fügt der »Disjam«- Keyboarder ganz neue Linien dazu.

Sowieso gingen bei diesem Konzert »Retorten«-Instrumente wie Sampler und die Plattenspieler von Hausmarke stimmig und musikalisch schlüssig mit den zwei Trommlern von »Disjam« zusammen; die »echten Baßlinien« fügten sich ins elektronische Gerüst genauso homogen ein wie dezentes Gitarren-Gesäge.

Das ist alles andere als selbstverständlich und zeugt von hoher Professionalität. Zusammen mit dem intelligenten Wortwitz und der fesselnden Ausstrahlung der Vier ergab dies ein HipHop-Konzert gleichermaßen für Kopf und Beine.

Im November und Dezember gehen die »Fantastischen Vier« zusammen mit »Disjam« und eventuell noch einem dritten Schlagzeuger auf große Deutschlandtour und sind am 3. Dezember wieder in »Stuggitown« im »LKA« in Wangen live zu hören. (mpg)

500 von 5000

In diesem Blog habe ich 500 von rund 5000 Artikeln und Kritiken archiviert, die ich zwischen 1984 und 2012 in verschiedenen Tageszeitungen v...