Samstag, 4. November 1995

Reconciliation: Konzert der Obertöne

Ein Konzert, bei dem es (fast) nur um Obertöne ging, besuchten rund 120 Interessierte im Tübinger »Sudhaus«: Zu Gast war das australisch-irische Trio »Reconciliation«, im Mittelpunkt stand rund zweieinhalb Stunden lang das Didgeridoo mit seinem mächtigen und eindrücklichen Obertonverhalten.

Eigentlich wurden die zwischen 80 und 120 Zentimeter langen Blas-Rohre von den australischen Ureinwohnern ausschließlich zu kultischen Anlässen gespielt; mittlerweile sind Didgeridoos in Esoteriker-Kreisen wie auch bei ständig vom Innovationsdruck geplanten Rock-Muckern sowas wie der »letzte Schrei«, sogar Soft-Rapper »Jamiroquai« setzte bei seinem letzten Auftritt in der Region in Böblingen das archaische Instrument — normalerweise aus Eukalyptusholz — über weite Strecken ein.

Gespielt wird es im Prinzip wie ein westliches Blechblasinstrument: Die Lippen regen die Luftsäule im Innern des Didgeridoos zu Schwingungen an; Lippendruck, -spannung und die Struktur des Holzes entscheiden über Zahl und Lautstärke der Obertöne.

Die Klänge, die ein Profi wie das »Reconciliation«-Mitglied Philip Conyngham aus seinen »Didges« herausholen kann, sind ziemlich einzigartig; mit kaum einem anderen »natürlichen« Instrument sind derart ausdrucksvolle Tonfärbungen möglich.

Ähnliche Ergebnisse ermöglichen bestenfalls Synthesizer-Frequenzfilter mit variabler Resonanz.
Oder auch, das erfuhren zumindest die durchweg begeisterten »Sudhaus«-Besucher, mit dem ebenfalls uralten »Irish Horn«: Das ist das zweite Hauptinstrument dieser musikalischen »Wiedervereinigung« (»Reconciliation«), der Ire Simon O'Dwyer spielt es eben mit derselben Lippen-Blastechnik wie der Australier seine Hölzer.

Mal abgesehen von dem außerordentlichen Reiz, zwei archaische Instrumente aus zwei weit auseinanderliegenden Kulturen hören und sehen zu können: Die Kombination der acht verschiedenen Didgeridoos mit dem bronzezeitlichen Tute-Horn aus Metall war auch abseits aller musikethnologischen Aspekte klanglich sehr aufregend. O'Dwyer und Conyngham zeigten alleine, im Duo und mit Unterstützung der Rahmentrommel-Spielerin Maria Cullen spannende Polyrhythmik auf ihrem Instrumentarium.

Monoton hätte das Konzert nur auf jemanden wirken können, der tonale Vielfalt im »westlichen« Sinn erwartet hätte. Die teilweise schon tänzerisch-wilden Rhythmusmuster, die extremen Tonfärbungen, die besonders Conyngham mit Zirkularatmung hinbekam, spielten sich nicht an der »Oberfläche« ab: Es war halt ein Konzert der Obertöne. (mpg)

500 von 5000

In diesem Blog habe ich 500 von rund 5000 Artikeln und Kritiken archiviert, die ich zwischen 1984 und 2012 in verschiedenen Tageszeitungen v...