Samstag, 9. März 1996

Jazzkantine: Ganz schön poppiger Jazz

Jazzhörer sind Grufties. Jedenfalls mag dieser Eindruck hei Teens und Twens aufkommen, die hierzulande mal einen vorsichtigen Blick in die einschlägigen Lokale werfen.

Es geht aber auch anders, nach einem Prinzip, das auch die Waschmittel-Industrie immer wieder erfolgreich anwendet. Zum grössten Teil verblüffend jung waren die begeisterten Zuhörer im ausverkauften Stuttgarter Theaterhaus beim Gastspiel der »Jazzkantine«.

Der Trick des knappen Dutzends Musiker und DJ's war und ist einfach: Die »Jazzkantine« verpackt Schnipsel »alter« Jazz-Harmonien und Grooves in eine hochmodern klingende, neue Hülle aus sanft schwingenden HipHop-Grooves.




Das funktioniert bei dem Über-Standard »Take Five«, den das Produzenten-Team Ole Sander und Bassist Christian Eitner vom ursprünglichen 5/4-Takt in ein »gewöhnliches« 4/4-Schema zurückgeführt haben: Ein spannendes Stück Musik ist da plötzlich wieder zu hören.

Das klappt auch mit Jazz-Funk-Schnipseln, die die Deutschen bei der amerikanischen »Average White Band« abgekupfert haben, beim tänzelnden »Boogaloo« sowieso — und wenn Gunter Hampel spielt, auch mit freieren Strukturen. Kaum ein 18jähriger würde wohl freiwillig eine alte Aufnahme des ehemaligen Free-Jazz-Gurus am Vibraphon freiwillig bis zum Ende anhören - seine (auch nicht gerade weichspülenden) Soli beim Stuttgarter »Jazzkantine«-Konzert beklatschten alle.

Das Applaudieren wurde einem auch leichtgemacht bei diesem Konzert: Nicht nur, dass die Titel des aktuellen Albums »Heiss und Fettig« auch live genauso druckvoll groovend wie auf Platte rüberkamen; nicht nur, dass die Musiker das hohe Niveau der Studioproduktion hei ihrem langen Konzert durchweg hielten: Mit langen Improvisationsteilen — besonders überzeugten Tom Bennecke an der Gitarre sowie Keyhoarder Jan-Heie Erchinger — verfeinerten die begabten Musik-Köche ihr Menü noch. Und dass man bei einem Rap-Konzert die im Schnellfeuertempo von »Phil. I. P.«, »Aleksey« und Co. gereimten Zeilen von A bis Z wirklich versteht, ist die grosse Ausnahme.

So war's eine runde Sache, bei der auch die Tontechnik und die Beleuchter unauffällig und sehr kompetent arbeiteten: Die Zuschauer machten begeistert mit und sangen Christian Eitner — er hatte Geburtstag — sogar kollektiv ein Ständchen.

Nicht zu vergessen die Vorgruppe »Cultured Pearls« aus Hamburg, die ihren Acid-Jazz noch eine Spur perfekter rüberbrachte als beim Gig im Tühinger »Sudhaus« vor wenigen Monaten. (mpg)

500 von 5000

In diesem Blog habe ich 500 von rund 5000 Artikeln und Kritiken archiviert, die ich zwischen 1984 und 2012 in verschiedenen Tageszeitungen v...