Donnerstag, 30. Januar 1997

Jazztage Nürtingen 1997: Mal verkopft, mal voll Feuer

Geheimnisvoll, fast schon mystisch düster mutete die Stimmung in der Nürtinger evangelischen Stadtkirche an: Dort hatten die Organisatoren der Jazztage zum Avantgarde-Konzert mit dem Duo »Sens-A-Go« und dem Organisten Johannes Mayer eingeladen. Das Innere des Gotteshauses war fast ganz unbeleuchtet; selbst die Künstler wollten kein Licht haben.

Das gehörte wohl zum Konzept — und fast schien es so, als ob auch etwa 60 permanent und beharrlich Herumlatschende unter den etwa 150 Besuchern eingeplant gewesen wären. Waren sie aber nicht . .

Gewollt nervig tönte aber Eva Katrin Schifkowski, die zwischen peinlichen Dada- und Scatversuchen pendelnd wahlweise nur ständig repetierte Silben, bedeutungsschwangere Wortfetzen oder gar völlig sinnentleerte Geschichten mit einer ungeschliffenen Stimme zum Besten gab. Dazu tutete Andreas Burkhardt auf dem derzeitigen Esoterik-Mode-Teil »Didgeridoo« und zeigte auf dem Altsaxophon im Wesentlichen, dass er flüssig Arpeggien spielen kann. Da waren bestenfalls die Sound-Änderungen durch Burkhardts Wanderungen durch die Kirche interessant — und vielleicht auch noch die eine oder andere Kombination seines Klangs mit dem der Orgel.

Aufs Ganze gesehen war's aber eine ungemein bedeutungsschwanger daherkommende, ziemlich verkopfte Geschichte, ohne dass irgendeine allgemeinverständliche musikalische Aussage zu dechiffrieren gewesen wäre.

Das Anliegen des italienischen Startrompeters Enrico Rava bei seinem erneuten Nürtingen-Abstecher hingegen war schon vor seinem Konzert in der ausverkauften Kreuzkirche klar: Mit seinem Programm lieferte der Mittfünfziger sozusagen das Schwerpunktkonzert der diesjährigen Nürtinger Jazztage, die ja hauptsächlich unter dem Thema »Klassik und Jazz« Musik anbieten.

Wer jetzt aber bei »Enrico Rava plays Italian Composers« — querbeet vom Uralt-Volslied über Puccini-Opernmelodien bis hin zu Filmmusik von Fellini und Schlagern — nur eine feurig-folkloristische retrospektive Angelegenheit erwartet hatte, wurde blitzschnell eines Besseren belehrt.

Mit seinen exzellenten fünf Begleitern - fantastisch die Klangkontraste der beiden Gitarristen Roberto Ceschetto und Domeni sa Caliri, »pulsierend« wie Tony Williams in jungen Jahren, »U. T.« Gandi an den Drums mit der rhythmisch vertrackten Unterstützung von Bassist Giovanni Maier, und überbordend virtuos, aber nie langweilig Akkordeonspieler Jean-Louis Matinier — nahm die tatsächlich »graue Eminenz« der italienischen Jazzszene die Vorlagen systematisch und sehr verspielt auseinander, wechselte vom heiteren Swing einer Nino-Rota-Komposition hin zu fast schon bösartig klingenden Freejazz-Attacken.

Dabei waren »harmonisch« und »frei« klingende Passagen in dem langen Konzert immer sorgfältig aufeinander abgestimmt, der selbst mit unzähligen Trillern brillierende Chef steuerte seine hochenergetisch spielende Bande mit fast unmerklichen Fingerbewegungen durch die mehr als komplexen Arrangements.

Klar, dass das alles sehr nach dem Geschmack der Nürtinger Jazzfans war, die den italienischen Jazzer ja schon bei seinem ersten umjubelten Auftritt in der Kreuzkirche vor zwei Jahren in ihr Herz geschlossen hatten: Auch diesmal klang der Beifall nach dreimal so vielen Fans. (mpg)

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In diesem Blog habe ich 500 von rund 5000 Artikeln und Kritiken archiviert, die ich zwischen 1984 und 2012 in verschiedenen Tageszeitungen v...