Donnerstag, 15. Mai 1997

Toots & the Maytals: Lebendige Legende

Wirklich erstaunlich: Da schleppt sich sonst der Reggae-Fan rotgerauchten Auges von müden Roots-Konzerten zu erfahrungsgemäss nur unwesentlich weniger laschen »Ragamuffin«-Schreihälsen — und jetzt zeigte ausgerechnet Ober-Oldie Toots Hibbert in Ludwigsburg den Jungen in musikalischer Hinsicht was eine Harke ist.

Der »Erfinder« des Stilbegriffs — zumindest tauchte die heute allgemeingültige Bezeichnung »Reggae« zum ersten Mal Mitte der Sechziger im Hibbert-Song »Do The Reggay« öffentlich dokumentiert auf — gab nämlich im »Scala« nach genreüblich elend langer Wartezeit ein in jeder Hinsicht sehr gutes Konzert.

Nicht nur, dass der alte Profi im Pensionsalter sehr gut bei Stimme und genauso aufgelegt war — er machte auch dramaturgisch alles richtig, was manch ein Jung-Star in selbstbespiegelnder Arroganz vernachlässigt: Dynamisch und tempomäßig steigerte sich die professionelle Show zwei Stunden lang ohne Hänger permanent.

Zusammen mit fünf handwerklich auf höchstem Niveau und überhaupt nicht gelangweilt spielenden Begleitern — zweimal Gitarre, Bass, Schlagzeug, Keyboards - singt sich Toots mit seiner unverkennbar heiser-souligen »Crooner«-Stimme durch ein wahres Hit-Repertoire. Und frönt dabei ausgiebig und gekonnt wie eh und je (»Toots in Memphis« von 1988 ist ein Reggae- wie R &B-Plattenklassiker!) seiner schon lange währenden Liebe zur Musik der US-Südstaaten: »Louie, Louie«, »It's A Shame« und viele andere Rhythm'n'Blues-getränkte Titel gibt's im »Scala« zu hören. Und wer es nicht schon längst weiß, daß Toots US-Pop sehr geschickt assimilieren kann, ist nach »Take me Home, Country Roads . . . « im Reggae-Puls schlauer.

Was macht's bei der gehörten Qualität schon, dass Toots' Begleiter natürlich nicht die originalen »Maytals« sind, zum Teil fast halb so jung wie ihr höchst vitaler Chef? Das Publikum jedenfalls — vom Teenie bis zu gesetzten Herren, die aussehen, als ob sie die erste »Maytals«-Single in 1962 noch im Original gekauft hätten — zeigt uneingeschränkte Begeisterung: Das Kinogestühl ist nach zehn Konzertminuten leer und die Freifläche vor der Bühne voller ausgelassener Tänzer.

»Hey — das klingt ja so langsam viel besser als das Original«, meint eine ganz junge Zuhörerin, als Hibbert seinen 66er-RiesenHit »Bam Bam« anstimmt — in der Tat verwies der Reggae-»Opa« auch hier wieder seine Nach-Macher (in diesem Fall »Sister Nancy«, deren »Dancehall«-Cover aus den 90ern besagter Fan wohl für die ursprüngliche Version gehalten hatte . . . ) künstlerisch auf die hinteren Plätze.

Shabba Ranks, der »Mad Professor«, »Shaggy« und andere mehr oder minder angesagte Acts dürfen wegtreten zum Weiterüben. (-mpg)

500 von 5000

In diesem Blog habe ich 500 von rund 5000 Artikeln und Kritiken archiviert, die ich zwischen 1984 und 2012 in verschiedenen Tageszeitungen v...