Samstag, 1. November 1997

Vernon Reid: Alles fließt

Vernon Reid bleibt nicht stehen. Nach den Riesenerfolgen mit »Living Colour« hat er jetzt - mit Miles-Davis-Freund Teo Macero und Prince Paul als Produzenten — »Mistaken Identity« vorgelegt: Ein Album, das vielen als wegweisend gleichermaßen in Sachen Rock und Jazz gilt. Entsprechend gespannt darf man auf das Tübinger Konzert im November sein. Martin Gerner hat sich mit Reid unterhalten.

Du bist jetzt gerade in Europa angekommen. Wie kommt deine Musik an?

Für mein Gefühl: sehr gut. Die Europäer haben hier gewisse Ideen schon lange akzeptiert, »progressive rock« zum Beispiel. Hier gab's Bands wie Soft Machine, Pink Floyd oder Kraftwerk — das ist Musik, die mich schon ganz früh geprägt hat . . . die gerade angesagten Daft Punk sind ja letztendlich nur die Fortführung von Kraftwerk . . . Also: Hier ist das Verständnis sehr groß.

Was gibt's denn in Tübingen zu hören?

'Ne Mischung aus all den Stilen, die ich eben aufgezählt hab', haha nein, nüchtern gesagt, ein Mix aus Rock- und Jazzelementen und ganz verschiedenen Sounds. Ich kann's so genau wirklich nicht beschreiben; wir haben jetzt erst die vierte Show gemacht, 24 kommen noch. Das verändert sich dauernd. Der Plattentitel (»Verwechselte Identität«) ist schon absichtlich gewählt. Rock steht für einen Haufen Sachen, die dich weiterbringen können, aber halt auch einengen. Auch als Individuum hast du die Wahl, aber diese Wahlfreiheit schränkt dich auch ein. Um einen Punkt zu machen: Wir leben heute in
einem Informationszeitalter, wo alles in Bewegung ist, alle Werte neu überdacht werden. Rock muß auch ständig neu überdacht werden — entweder, du akzeptierst das, oder du gehst unter. Ich schreib' gerade einen Song, da hab' ich die Zeile »revolution is a fantasy, evolution is reality«: Das ist es... (lacht). Die Antwort war jetzt nicht zu lang, nein?

Wie war die Arbeit mit dem berühmten Teo Macero?

Der ist ganz anders als mein Freund Prince Paul (den ich im übrigen wegen seinem »3 ft. High And Rising«-Meilenstein mit De La Soul echt bewundere), aber ein prima Kumpel, und so verdammt jung im Kopf. Beim Abmischen, als es schon ziemlich laut im Kontrollraum war, ist Teo mit seinen über 70 Jahren zum Toningenieur hingeschlappt und hat gemeint: »Kannst Du das nicht ein bißchen lauter machen?« Uns sind fast die Ohren weggefallen, der Mann sollte Rock-Bands produzieren. Und er hat ein Wahnsinns-Gehör: Zufällig hat er ein Gitarrensolo, was ich auf DAT-Band hatte, von mir mitgekriegt. Da hat er gesagt: »Halt mal an, ich hab 1950 was komponiert, das hat dieselbe Tonart«. Später ist er mit der Platte angekommen, wir haben sie einfach so, ohne irgendwelche besondere Synchronisation, zum DAT abgespielt — und es hat perfekt gepaßt. Das ist magisch!

Hörst du dir auch noch Sachen von Kollegen an?

Ja klar, The Orb find' ich klasse, oder auch die neue Platte von Rakim. Aber ich mag auch fast alles von Al Green, Curtis Mayfield, Santana. Und natürlich die ganz alten Sachen: Jimi Hendrix, die Beatles, Bob Dylan, Jeff Beck, Clapton . . . und immer noch ist »ABC« meine allerliebste Jackson-Five-Platte, hihi . . .

Und was tut Vernon Reid, wenn er nicht gerade Musik macht oder hört?

Fotografieren, Schreiben und Filme gucken. Ich bin ein absoluter Filmfreak, möcht' auch mal sowas schaffen wie Mike Figgis in »Leaving Las Vegas« — ein Drehbuch und die Musik schreiben. Gerade hab ich mir in der BBC »Das Bildnis des Dorian Gray« angeschaut — große Klasse! Der beste Satz in dem Film lautet: »Frauen inspirieren Männer zu großen Meisterwerken und halten sie dann davon ab, ihr Werk zu beenden«. Ich will hier keine Feministinnen beleidigen. Aber da ist doch mehr als ein Körnchen Wahrheit dran, oder? (mpg)

500 von 5000

In diesem Blog habe ich 500 von rund 5000 Artikeln und Kritiken archiviert, die ich zwischen 1984 und 2012 in verschiedenen Tageszeitungen v...