Donnerstag, 6. November 1997

Vernon Reid: Saiten-Egozentrik

Manch ein »Living Colour«-Fan zog beim Gastspiel des Stargitarristen Vernon Reid mit seinem »Science Project« im Tübinger »Zentrum Zoo« ein langes Gesicht: »Das ist ja gar kein richtiges Konzert, sondern eine Ego-Show«, meinte einer, ein anderer bemängelte, daß sich »alles zerrissen anhört. Da hörst Du einen Effekt nach dem anderen, aber was hat das noch mit den energischen, kompakten Songs zu tun, die der Mann mal gebracht hat?«

An die Musik, die Reid zusammen mit »seiner« Supergruppe »Living Colour« zehn Jahre lang gemacht hat, erinnerte im »Zoo« tatsächlich so gut wie nichts. Gegen Ende des langen Konzerts, als Reid zwei Songs seines letzten Albums »Mistaken Identity« spielte und auf seiner Gitarre wie ehedem »sägte«, kamen die alten Fans immerhin — auf ihre Kosten.

Ansonsten zeigte sich der Afroamerikaner hörbar von seiner Studio-Zusammenarbeit mit dem Ex-Miles-Davis-Produzenten Teo Macero beeinflußt. Den bezeichnet Vernon begeistert als »Meister des Loops« — und mit überlagerten, ständig wiederholten Musik-Schleifen arbeitete Reid auch live in Tübingen.

Tatsächlich nicht ganz klar wurde im Verlauf des Abends, wozu Reid seine Mitmusiker braucht. Rein technisch gesehen hätte der Gitarrist nämlich deren Töne auch noch selber erzeugen können . . .

Der Berichterstatter kann sich nicht erinnern, jemals — weder bei einem Saiten-Freak noch überhaupt — ein solches Elektronik-Arsenal für einen einzelnen Musiker gesehen zu haben. Reid steuerte seine Computer-Kollegen über seine Midi-Gitarre und mehr als zwei Dutzend im Kreis um ihn herum aufgebaute Effektpedale an; neben ihm waren sage und schreibe 21 Sampler, Effektgeräte, Synthesizer und andere Klangerzeugungsmaschinen aufgestellt.

Weil Reid sich in dem Kabelwust recht gut zurechtfand und die Steuerung offenbar exakt programmiert war, konnte er die Vielzahl an Tonquellen virtuos nutzen. Selten allerdings war das wirbelnde Sound-Kaleidoskop der musikalischen Aussage dienlich: Reid spielte in Fetzen und im Telegramm-Stil so ziemlich alle Stile der Black Music an, ohne sich lange bei einem aufzuhalten. So ist wohl, trotz einiger packender, stimmiger Momente der eingangs erwähnte Eindruck der Zerrissenheit entstanden.

Die Sound-Dichte von Vernon alleine hätte — wie gesagt — lässig gereicht. Aber Keyboarder Leon Gruenbaum hatte seine eigenen Klangspeicher mitgebracht, übernahm die Rolle des Bassisten — und feuerte seinerseits, ob passend oder unpassend, ein Sample nach dem anderen ab.

Dazu kamen dann noch die (meistens exakt synchronisierten) Vinyl-Musikschnipsel von »DJ Logic« zwischen Rock, Hip-Hop und »Drum 'n' Baß«-Geklapper — und (warum?) zusätzliches, verzichtbares Live-Drumming von Michael Winberly. Rhythmustechnisch völlig »daneben« lag so manchesmal Schnellschwätzer »Bean«.

Den rund 200 Besuchern war der Experimentalcharakter des Ganzen augenscheinlich ziemlich egal — und von der dicken »Wall of Sound« ließ sich auch kaum jemand beeindrucken. Während des Konzerts kam so gut wie keine Stimmung auf — und vor den Zugaben (die er ungefragt spielte) machte sich Reid noch über die ausgebliebenen Publikums-Reaktionen lustig. Wahrscheinlich war die Musik dieses »Wissenschafts-Projekts« doch für die Tübinger zu weit von der entfernt, mit der Vernon Reid vor zwölf Jahren schlagartig zum Saiten-Star wurde. (-mpg)

500 von 5000

In diesem Blog habe ich 500 von rund 5000 Artikeln und Kritiken archiviert, die ich zwischen 1984 und 2012 in verschiedenen Tageszeitungen v...