Dienstag, 4. Februar 1986

Familie Schmidt: Volkstheater für die »Scene«

Ein Bett, zwei Tische und ein Stuhl auf der »zelle«-Bühne waren die wenigen Requisiten, die die Kabarettgruppe »Familie Schmidt« für ihr Programm "Die Widerlichen" benötigte. Die drei Darsteller aus Hamburg nahmen - unterstützt von einem hervorragenden Mann am Gitarrensynthesizer — an zwei Tagen vor jeweils ungefähr 200 Zuschauern so ziemlich alles auf die Schippe.
Zwei Brüder, der eine ein homosexueller ehemaliger Bankangestellter, der beschlossen hat, den Rest seines Lebens im Bett zu verbringen, der andere ein schrecklich pathetischer, heruntergekommener Schauspieler, der nicht mehr zwischen Theater und Realität unterscheiden kann, stritten sich gut eineinhalb Stunden lang über dies und das.
Eine »Handlung« im landläufigen Sinn gab es nicht; die Künstler verschachtelten lediglich sehr geschickt verschiedene Gags und Wortspielereien miteinander und brachten so die Leute dauernd zum Lachen. Besonders gut kam die Szene an, in der der »Schauspieler« einem — natürlich schwulen — Freund seines Bruders beibringt, wie man Applaus entgegennimmt.
Das war wirklich sehr überzeugend gemacht. Überhaupt erreichten die Akteure ein überraschend hohes Niveau, wenn es um die Umsetzung der einzelnen Szenen ging. Die Texte und Pointen waren leider nicht so gut; manchmal wirkten sie eher herbeigezogen, selten sogar peinlich. Es ist sicher fraglich, ob es sich für eine Theatergruppe aus der »Scene« ziemt, in Zeiten der AIDS-Hysterie die Homosexuellen dermaßen giftig niederzumachen, wie das in der »zelle« geschah.
Ein Besucher meinte zum Programm der »Familie Schmidt« sehr treffend, dass das eben auch nur eine Art Ohnsorg-Theater sei - halt mit anderen Mitteln und für Nachwuchs-Spontis anstatt fürs Durchschnitts-Fernsehpublikum. Dieses Programm wird auf Alternativ-Bühnen wohl keine großen Erfolge haben.
Autor: Martin Gerner
Erstabdruck/Erstveröffentlichung: Reutlinger General-Anzeiger

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