Dienstag, 2. Juni 1987

Georg Holzwarth: Die kleine schwäbische Welt

»Schreiben ist eine Möglichkeit, die Wirklichkeit auf Distanz zu halten«  - die Inhalte der Texte, die der Tübinger Schriftsteller und Mundartdichter Georg Holzwarth im »Literaturcafe« in der Stadtbibliothek Reutlingen vorlas, waren nah an der Realität; an der schwäbischen, sozusagen.
»Es ist ein unbeschreibbarer Vorteil der Erziehung, daß sie irgendwann aufhört.« Holzwarth, der siebzehn Jahre lang Lehrer an Gymnasien war, weiß Bescheid. Die Hauptfigur seines Erstlingsromans »Das Butterfaß« und des Nachfolgers »Die Fußreise«, der schwäbische Lausbub Hansjörg, ist manches Mal identisch mit dem Autor; »mein anderes Ich«, wie Holzwarth sagt.
Die Geschichten um Hansjörg, der in einem kleinen Dorf auf der Ostalb aufwächst, erzählen von kleinen Gemeinschaften, wo die Tradition zählt, jeder über jeden Bescheid weiß und der Pfarrer mahnt, bei der nächsten Wahl »christlich« zu wählen. Jeder, der anders ist oder sein will, hat es ungeheuer schwer in so einem Dorf.
Georg Holzwarth wurde vor 46 Jahren in Schwäbisch Gmünd geboren und wuchs in Lautern auf. An der Uni Tübingen studierte er Geschichte, Germanistik und Philosophie, unterrichtete bis vor zwei Jahren und ist heute freier Schriftsteller. Zunächst machte sich Holzwarth mit schwäbischen Gedichten und Prosa einen Namen; 1982 erschien »Das Butterfaß«.
Aus der »Fußreise« bekamen die knapp 30 Zuhörer in der Stadtbibliothek eine humorvoll erzählte Episode zu hören: Der Protagonist hat von dem »Dorfmief« endgültig die Nase voll und will abhauen. Pech für ihn, daß der Bus, den er besteigt, von alten Damen aus seinem Dorf besetzt ist, die gerade zu einer Wallfahrt wollen. Hansjörg bekommt Einblicke in zahlreiche Marienlieder, muß sich allerlei dumme Fragen anhören und landet am Ende der Reise im Straßendreck: Er hat zuviel Bier getrunken und sagt den Wallfahrerinnen deutlich und predigend die Meinung, worauf er vom Busfahrer an die Luft gesetzt wird.
Neben Ausschnitten aus den beiden Romanen las Holzwarth auch zahlreiche Gedichte und Sprüche auf schwäbisch: »Ehe« erzählt von einem Paar, das zwar schon lange nicht mehr miteinander redet, aber -zig Kinder, ein Haus und manches andere mehr zustande gebracht hat. »Mahlzeit« beschreibt die ebenfalls hierzulande weit verbreitete Sitte, mit am Tisch sitzende Leute mit unglaublicher Energie zum Essen zu nötigen; wenn's ihnen schlecht wird, liegt's sicher daran, daß sie zuwenig gegessen haben…
Der Schwabe Holzwarth beschreibt die Eigenheiten und Macken seiner Landsleute so, daß das Schmunzeln über die genaue Beobachtung und die pointierten Formulierungen größer ist als das Unbehagen über die geistige Unbeweglichkeit, die oft das Thema ist. Das ist gut so, denn »Nestbeschmutzer« mögen wir hier überhaupt nicht und die »richtigen Schwaben« sind sowieso die anderen!

Autor: Martin Gerner
Erstabdruck/Erstveröffentlichung: Reutlinger General-Anzeiger, 02. Juni 1987

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