Freitag, 20. November 1987

Friedrich Christian Delius: Fensterplatz Mogadischu verhangen

Man erinnert sich: Vor zehn Jahren wurde eine Lufthansa-Maschine mit deutschen Urlaubern von Palästinensern entführt. Ein Geiseldrama, das fast fünf Tage dauerte und mit der Befreiung der Passagiere durch GSG9-Spezialeinheiten endete.
Friedrich Christian Delius setzte den mit »Ein Held der inneren Sicherheit« begonnenen Weg der Beschreibung der Geschehnisse im Jahr 1977 mit seinem neuen Buch "Mogadischu Fensterplatz" fort; auf Einladung des Jacob-Fetzer-Buchladens stellte er sich den Reutlinger Lesern vor.
Zwei Abschnitte aus dem 263 Seiten umfassenden Werk werden zu Gehör gebracht: Die Beschreibung der Situation im Flugzeug, während die Passagiere von den Geiselnehmern bedroht werden und bang dem Ende des Dramas entgegensehen und dann die Befreiung durch die deutschen Terroristenbekämpfer. Delius liest langsam, unbetont, gibt vorher und zwischendurch immer wieder Erklärungen - man hat schon Mühe, der Stimme zu folgen und den Sinn und Zusammenhang der Worte wahrzunehmen.
Die Entführung des Flugzeugs wird aus der Perspektive einer jungen Frau, einer Biologin, beschrieben. Andrea Boländer, so heißt die Erzählerin, erinnert sich an die Geschichte, während sie einen - unsinnigen - Fragebogen des Versorgungsamtes ausfüllt.
Dieses Vorgehen des Autors ist verständlich. Jeder zweitklassige Krimischreiber weiß, dass man mit diesem Kunstgriff die Spannung erhöhen kann. Bei »Fensterplatz Mogadischu« aber geht die Sache schief. Es ist fraglich (wie ein Zuhörer treffend bemerkte), ob man anhand einer völlig unpolitischen Person (Andrea denkt die ganze Zeit an ihren Freund und zweimal auch an Schleyer, der bei ihr »Präsident der Industrie« ist) ein Buch, ein politisches wohl, über diese Zeit -  die zu beschreiben ohne Politik gar nicht möglich ist -  machen kann, ohne ein dickes »Thema verfehlt« an den Rand zu bekommen.
Der Leser ist hautnah dabei. Er geht mit Andrea aufs Klo, isst mit ihr das schlechte Essen, erfährt mit ihr die Geschichte der Sitznachbarin (Gewinnerin einer Miss-Wahl!) und darf einen Krampf im Bein nachvollziehen. Während aber der Biologin der Schweiß ob der Hitze im Flugzeug aus allen Poren rinnt, ist es beim Leser eher die Anstrengung beim Lesen. Das Buch (das ja nun wirklich nicht dick ist)  liest sich ungefähr so spannend wie ein Wörterbuch mit 1000 Seiten. F. C. Delius hat die Absicht, »herauszufinden, was geschehen ist.« Viel mehr erfahren als bei irgendeinem Bergsteiger, dem die Zehen ab frieren, kann der Leser allerdings nicht. Vor dem Fenster, das Mogadischu zeigt, hat wohl irgend jemand die Vorhänge zugezogen.
Autor: Martin Gerner
Erstabdruck/Erstveröffentlichung: Reutlinger General-Anzeiger, 20. November 1987

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