Dienstag, 1. März 1988

Der Doppelgänger im Kino: Verwickelte Geschichte mit Sex und Crime

Tübingen. (mpg) Lehrer haben nicht immer recht: »Ihr Sohn wird im Zuchthaus enden«, war die Prophezeiung an die Eltern von Lothar Müller-Güldemeister vor mehr als 25 Jahren; der Sohn des emeritierten Professors für russische Literatur an der Uni Tübingen, Dr. Ludolf Müller, hat Karriere und jetzt mit seinen ehemaligen Pennäler-Kollegen Emanuel Boeck (Regie) und Wolf-Christian Schröder (Drehbuch) einen professionellen Kinofilm gemacht. Die Hauptrolle in "Doppelgänger" spielt der durch den Kinohit »Männer« zum Star gewordene Uwe Ochsenknecht Bundesweit startet der auf auf einer Verwechslung aufbauende Thriller im April, Weltpremiere ist morgen abend in Tübingen.
Kennengelernt hatten sich Boeck, Müller-Güldemeister und Schröder im Tübinger Ludwig-Uhland-Gymnasium — dort blieben die drei allerdings nicht lange. Nach dem gemeinsamen Abitur in einem englischen Internat studierte Emanuel Boeck an der niederländischen Filmakademie und arbeitete später bei verschiedenen TV-Anstalten, Theatern und war als Werbefilmer tätig.
Wolf-Christian Schröder, der das Drehbuch zum »Doppelgänger« schrieb, schlug sich nach einem Slavistik-Studium in Berlin durch und Lothar Müller-Güldemeister verdiente als Bankjustitiar und Immobilienkaufmann in Hamburg seine Brötchen.
Vor drei Jahren kam Schröder die Idee für den Film, der Arbeitstitel lautete damals »Sitting Duck — tödlicher Job« und Anlass war die Figur des V-Mannes und Agenten Mauss, dessen zwielichtige Machenschaften an die Öffentlichkeit kamen. Anfang 1987 war klar, dass der »Doppelgänger« gedreht werden würde, der erste Drehtag war im August desselben Jahres und im Sommer war der Thriller fertig.
Zu den Finanzierungsproblemen — ursprünglich waren 400 000 DM für eine semiprofessionelle Version auf 16-mm-Material gedacht, am Ende war's ein ausgewachsener 35-mm-Kinofilm, der 1,3 Millionen gekostet hatte — kamen auch noch die Schwierigkeiten, einen Verleih zu finden. Jetzt hat Müller-Güldemeister diese Aufgabe auch noch übernommen: »Ich habe viel zuviel Zeit verloren«.
Mit Uwe Ochsenknecht haben die Kino-Debütanten einen Schauspieler gefunden, der der schwierigen Doppelrolle im Film gerecht wird. Zum einen verkörpert Ochsenknecht den sympathisch-lässigen Biologiestudenten Harry, zum anderen den Agenten Wolf, eine eiskalte Killer-Figur.
Die übrigen Hauptrollen sind mit in Deutschland weitgehend unbekannten Darstellern besetzt, die alle in England leben. Harrys Karriere-Freundin Saskia wird von Michelle Evans gespielt; die in London lebende Amerikanerin Angie Hill war auf deutschen Fernsehschirmen schon in Werbespots für ein »koffeinhaltiges Limonadengetränk« zu sehen und gibt in der Rolle der vom Geheimdienstbeauftragten Klein (Simon Oates) auf Harry angesetzten Barbara ihr Kinodebüt.
Herausgekommen ist bei »Doppelgänger« eine überaus komplizierte und verwickelte Geschichte. Harry sieht Wolf ähnlich und soll für den Agenten, der sich einer Gesichtsoperation unterzieht und untertauchen will, die Zielscheibe spielen. Nach unendlich vielen Kinominuten und Morden — bei denen eifrig mit modernstem Chirurgie-Gerät herumgestochen wird — kann der Zuschauer erleichtert Harry und seine Saskia ins Happy-End entschwinden sehen.
Produzent, Regisseur und Autor sind Kinofans: Sie legen den Figuren klischeehafte, manchmal grotesk überzogene Worte in den Mund und zitieren auch sonst Meister des Kino-Schreckens. Ob dieser Cineasten-Humor auch vom normalen Publikum verstanden wird, muss sich zeigen. Kameramann Karl Karges setzte die Geschichte in durchweg kühle, »gestylte«, manchmal schon klinisch saubere Bilder um, die die Unwirklichkeit in manchen Szenen unterstützen.
Müller-Güldemeister hat seine ganzen finanziellen Reserven in den Film gesteckt. Falls der »Doppelgänger« vom Publikum nicht angenommen wird, muss der Produzent trotzdem nicht stempeln gehen: Die internationalen Rechte für die Auswertung auf Videocassetten bringen auch noch Geld.
Jetzt ist also Premiere, und nicht in Berlin, München oder anderswo — nein, ausgerechnet Tübingen musste es sein. Das hat zwei Gründe: Einmal »die Nostalgie«, wie Müller-Güldemeister sagt, »wir haben uns sogar überlegt, ob wir die Produktionsfirma >Haagtor Productions< nennen sollen«; zum anderen war der Tübinger Kinobesitzer Kurt Lamm, in dessen Kinosälen die drei Filmemacher früher »mehrmals am Tag« verschwanden, sofort zur Zusammenarbeit bereit.
Es hat zwar lange gedauert, bis der »Doppelgänger« endlich fertig war — ein ganzes Jahr länger, als ursprünglich geplant —, aber jetzt ist es soweit: Bei der Premiere morgen abend um 20.30 Uhr in der »Blauen Brücke« sind neben den drei Tübingern voraussichtlich auch Uwe Ochsenknecht, Michelle Evans und Angie Hall anwesend.
Autor: Martin Gerner
Erstabdruck/Erstveröffentlichung: Reutlinger General-Anzeiger, 01. März 1989

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