Donnerstag, 24. März 1988

Harold Pinter, "Alte Zeiten": Der Kampf um die Erinnerung

Es war ein eiskaltes Zerfleischen von drei Personen, die irgendwann einmal in unklaren Beziehungen zueinander standen.
Es war der Versuch, Dinge ans Licht zu bringen, die vielleicht nie geschehen sind.
Es war der verzweifelte Versuch, sich über Vergangenes zu definieren.
Die Neue Schaubühne aus München gastierte in der knapp halbvollen Reutlinger Listhalle mit »Alte Zeiten« von Harold Pinter. Es war eine Aufführung in der LTT-Reihe »Das besondere Gastspiel«. Eingerichtet von Krzystof Zanussi und ausgestattet von Ewa Starowieska wurde das DreiPersonen-Stück von Vadim Glowna (Deeley), Heidelinde Weis (Kate) und Gundi Ellert (Anna) gespielt.
Deeley und Kate sind verheiratet, seit 20 Jahren, und leben auf dem Land. Die Jugendfreundin Kates hat sich zu Besuch angemeldet. Während Kate und Deeley sich noch über Anna unterhalten (Deeley: »Sie war deine beste Freundin!«), steht der Besuch schon im Zimmer vor dem Fenster. Ist der Dialog zwischen den Eheleuten alleine noch relativ friedlich wenn auch angespannt — bricht mit dem Eingreifen Annas der Krieg aus, die psychische Schlammschlacht kann beginnen.
Die Freundlichkeiten zwischen Kate und Anna werden schnell zu Tarnungen, unter denen die Probleme der beiden miteinander hervorschimmern, manchmal auch der blanke Haß. Noch steht Deeley freundlich lächelnd, präzise Fragen stellend, im Raum. Schließlich will er durch die Freundin seine Frau besser kennenlernen.
Zunächst erinnert er sich an nichts, war ja auch nicht dabei in der Wohnung, in der Anna Kate manchmal Unterwäsche gestohlen hat.
Später, als er Anna den Kaffee ans Bett bringt, erweist er sich als der Mann, der in einem kleinen Pub unter den Rock schauen durfte, auf die Unterwäsche — siehe oben - seiner späteren Frau. Der Dreier-Konflikt wird immer deutlicher, der Unterschied zwischen Dichtung und Wahrheit immer undeutlicher.
»Alte Zeiten« hat nichts Nostalgisches an sich. Die Erinnerung wird hier zur Waffe, weil die drei Personen in dem Zimmer nicht mit sich zurechtkamen und es auch in der Gegenwart nicht tun. Sie wissen nicht, wer sie waren; sie wissen nicht, wer sie sind — von dem, was mit ihnen (und durch sie) geschieht, haben sie erst recht keine Ahnung.
Die Dramatik entsteht durch den Blickwinkel des Voyeurs, der in eine Welt hineingezogen wird, die ihm sonst verschlossen bleibt: Der Besucher schaut auf ein Gefecht, in dem drei Leute um Herrschaft, Sympathien und Anerkennung aufs verbissenste und auf vielerlei Ebenen kämpfen.
Was in diesem Kampf real, was fiktiv ist, muß offenbleiben. Aber die erträumte Erinnerung eines Menschen sagt oft mehr über die Persönlichkeit aus als die tatsächlichen Geschehnisse. Konsequenterweise lichtet sich der Nebel in der Schaubühne-Inszenierung dann auch nicht. Vielleicht hat man irgendwann im Verlauf des Stücks bruchstückhafte Erkenntnisse über die Personen und deren Charaktere gewonnen — mit Sicherheit sagen können wird man es wohl kaum.
Zahlreiche Zuschauer entzogen sich der Suche nach Erkenntnissen schon vorzeitig und verließen bereits in der Pause die Listhalle.
Autor: Martin Gerner
Erstabdruck/Erstveröffentlichung: Reutlinger General-Anzeiger, 24. März 1988

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