Montag, 28. März 1988

Martin Dannecker: Das Unbekannte im Menschen

Etwas ungewohnt begann der Reutlinger Jacob-Fetzer-Buchladen am Freitagabend sein Frühjahrs-Lesungsprogramm: Nicht Schöngeistiges, auch nicht Sachliteratur erwartete die Besucher; zu hören gab es harte wissenschaftliche Kost zum Thema Sexualität. "Das Drama der Sexualität" heißt das Buch, sein Autor ist Martin Dannecker.
Dannecker ist Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Sexualforschung und arbeitet an der Frankfurter Universität. Die in Zusammenarbeit mit »Pro Familia« veranstaltete Lesung zog überraschend viele Besucher an; zwischendurch legte man eine Pause ein — der dicken Luft im Laden und der Knötchen im Gehirn wegen. Das Dilemma war in der Sache begründet: Danneckers Buch ist nämlich zum Vorlesen denkbar ungeeignet. 18 Aufsätze sind auf 180 Seiten zusammengefasst; zwei davon (»Was treibt uns ?« und »Rosa wird evangelisch«) bekamen die Besucher zu hören.
In den »Anmerkungen zur Triebtheorie« stellt Dannecker die These auf, dass »der sexuelle Wunsch, beziehungsweise das sexuelle Begehren des Erwachsenen unlösbar verschränkt ist mit dem Vergangenen«. Anders gesagt: Reine Triebhandlungen, so Dannecker, gibt es nur einmal — nämlich dann, wenn »der Trieb sich zum ersten Mal mit einem Objekt verknüpft«. Der Rest ist Erinnerung, salopp formuliert: Es entwickelt sich eine »Struktur des Begehrens«, die Erfahrungen machen lässt, die ihrerseits auf die Wünsche zurückwirken.
Ungläubige Frage einer Zuhörerin in der anschließenden »Diskussion«: »Einmal so, immer so? Ist das bewiesen?« Antwort Danneckers: »Im Prinzip: Ja. Es gibt keine absolute sexuelle Freiheit.« Der Autor arbeitet gerade an empirischen Untersuchungen zu dieser Frage und verweist im übrigen auf die Erfahrungen der 68er, wo jede Menge Experimente gemacht wurden, die aber nicht viel gebracht haben.
»Rosa wird evangelisch« ist ein offener Brief an den homosexuellen Filmemacher Rosa von Praunheim; eine stellenweise sarkastische Abrechnung mit Praunheims »Spiegel«-Artikel. Dannecker kritisiert hier den Ton der »öffentlichen Selbstbezichtigung«, die Versetzung der Kategorien von epidemiologischer auf eine moralische Ebene. Wer mit vielen verschiedenen Partnern sexuelle Kontakte hat, holt sich auch eher eine sexuell übertragbare Krankheit, als jemand, der nur mit wenigen Partnern Sex hat.
Diese Tatsache jedoch als »moralische Ungeheuerlichkeit« zu bewerten, sei ungefähr so, wie wenn man sich als Unmoralischer einstufen würde, nur weil man eventuell mehr Auto fährt als andere — das Risiko, zu verunglücken, ist dann ebenfalls größer. Letzter Satz des Briefs: »Tiefer Pessimismus ist angebracht, wenn einer wie Du, der dieser Gesellschaft in den vergangenen Jahren in der Rolle des Hofnarren immer wieder die Wahrheit sagte, zum Narren zu werden beginnt.«
Autor: Martin Gerner
Erstabdruck/Erstveröffentlichung: Reutlinger General-Anzeiger, 28. März 1988

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