Es sei ein trauerndes Buch; um jemanden, der ihm sehr nahe hätte sein können, wenn er nur nicht so aufs eigene »Ego« bedacht gewesen wäre: Peter Härtling sprach am Dienstagabend im vollbesetzten Saal des Theaters Lindenhof in Melchingen sehr ausführlich über die Hauptperson seines letzten Buches »Waiblingers Augen«. Wilhelm Waiblinger (1804-1830), der Verfasser des »Phaeton«, der Freund von Mörike und Schwab, war berühmt, als er mit 18 Jahren ans Tübinger Stift kam.
In der offiziellen Geschichtsschreibung des Stifts kommt Waiblinger nicht vor; bei einem Menschen, der so viel Beunruhigung in Tübingen hervorgerufen habe, so Härtling, sei dies »trostlos«. Das erste Mal begegnete Härtling dem Dichter, als er über Hölderlin schrieb. Waiblinger sei ihm nicht besonders nahe gewesen, weil er ein »Streichler seiner eigenen Seele« gewesen sei, ein junger Mann, der »in der Epoche der Abstumpfung« ohne jegliche Utopien lediglich individuell aufbegehrte.
»Waiblingers Augen«, so Härtling, handelt von einer unmöglichen Liebe. Der Heißsporn trifft bei einem Professor eine junge Frau, Julie Michaelis, die sich, wie Waiblinger selbst, nicht in die damalige Gesellschaft einfügen kann. Wo es aber bei Waiblinger die selbstgewählte lustvolle Rebellion ist, die ihn mehr oder minder zum Außenseiter werden läßt, lebt Julie (sie gehört einer angesehenen jüdischen Familie an; der Bruder Adolf ist Professor in Tübingen, Onkel Salomo Kritiker) in einem »halbgeöffneten Getto«, wo alle möglichst wenig auffallen oder anecken wollen. Waiblinger war denkbar ungeeignet, dieses Leben mitzumachen.
Härtling liest — neben einigen kurzen Gedichten — drei Abschnitte vor. Sehr humorvoll setzt er das erste Treffen Waiblingers mit Julie in Szene, wo der Dichter — weil seine Schuhe der Gesellschaft nicht angemessen sauber genug erscheinen — von der resoluten Haushälterin gezwungen, der versammelten Tübinger »ehrenwerten Gesellschaft« in Strümpfen gegenübertritt.
Eine Wanderung auf die Alb — nach Undingen — ist ebenfalls beschrieben und wird vorgelesen. Waiblinger, der »nicht nur auf dem Stift, sondern mit der ganzen Welt Ärger bekam« war, so Härtling, zu ungeheuren Gewaltmärschen fähig; einmal soll er in dreieinhalb Wochen nach Triest und zurück gelaufen sein!
Am Ende der Lesung werden die aufmerksamen Zuhörer Zeugen des endgültigen Auseinanderbrechens der Beziehung der jungen Leute: Waiblinger wird von Julies Bruder Adolf vor die Wahl gestellt, sich entweder anzupassen oder sich seine Liebe aus dem Kopf zu schlagen.
»Um diese Menschen zu sehen« hat Härtling das zwölfjährige Mädchen Lilli erfunden, die von der Familie aufgenommen wurde und zuschaut, wie es »immer atemloser und verzweifelter wird«. Die berichtenden Monologe Lillis folgen auf jedes Kapitel des Buches.
Nach der Lesung schlug der Lindenhof-Gast (»Ich bin ein Freund des Hauses«) vor, in die Gaststätte hinunterzugehen, um dort bei einem Schluck etwaige Fragen zu klären. Das wurde dann auch gemacht, nur: Härtling verzog sich dort an einen der hinteren Tische, unterhielt sich mit seinen Tischnachbarn und wurde von der »Öffentlichkeit« — was Härtling an Mitteilenswertem sagte, hätte sicher mehr Leute interessiert — zumindest in der nächsten Stunde nicht mehr gesehen.
Autor: Martin Gerner
Erstabdruck/Erstveröffentlichung: Reutlinger General-Anzeiger, 28. April 1988
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