Rolf Linnemann im Reutlinger »Kulturschock zelle«: Fast zweieinhalb Stunden erzählte der Wahlberliner von sich und seinen Mitmenschen, vom Kabarettmachen und seiner Heimat, »aus der die Politiker immer gleich ein Vaterland machen«.
Leiser Humor statt knalliger Pointen, Geschichtsbewußtsein statt aktueller Tagespolitik — Linnemann ließ sich und seinen Zuhörern viel Zeit zum Nach-Denken. Da gab es die Geschichte von »Frau P.«, die einsam in einer von den »Akademokraten sanierten« Wohnung lebte und sich beim Erzähler eines Tages beschwerte, weil sie der Lärm, der »beim Wegschlagen des fließenden Wassers von den Wänden« entstand, störte.
Oder etwa das Kaffeekränzchen, bei dem im Nachkriegsdeutschland über das brennende Hannover parliert wurde. Provozierend zynisch der Vorschlag des Künstlers zur Verminderung der Arbeitslosigkeit: Einfach den vielen alten Menschen, die tagtäglich aus dem Fenster schauen (»Die haben ein Leben lang gearbeitet. Und jetzt passiert nichts.«), mittels als Polizisten verkleideter arbeitsloser Schauspieler Verfolgungsjagden auf Andersdenkende vorzuspielen. Der »Zeuge des Monats« könnte dann auch gewählt werden, hat doch »jeder Steuerzahler das Recht, mindestens dreimal jährlich die Polizei anzurufen«.
Diese und andere teilweise recht böse Nummern verband Linnemann überaus geschickt mit eigenen und fremden Gedichten, Liedern und geistreichen Aphorismen. Feinfühlig sein Lied "Arbeitslos", voll sprühendem Humor die Geschichte vom »Küchenunkentransvestit Lusch«, ironisch seine Definition des Tübinger Flairs: »Da treffen große philosophische Gedanken auf soziologische Analyse und schweben dann als These/Antithese vom Himmel herab.«
Mit seinen bilderreichen, stellenweise (zu) weit ausholenden Texten will Linnemann an das Kabarett vor dem Zweiten Weltkrieg anknüpfen; etwa an die »Katakombe« mit Werner Fink. Der kam dann — augenzwinkernd parodiert — prompt in einer Zugabe zu Wort. Glänzend interpretiert auch Tucholskys »Ideal und Wirklichkeit«, den der Kabarettist neben Ringelnatz besonders verehrt.
Die große, in Deutschland fast ausgestorbene Kunst des Rolf Linnemann besteht darin, Tradition und Moderne, Zynismus und Humoristisches, Lyrik und Prosa höchst unterhaltend zu verbinden. »Kabarettisten sind die bezahlten Knüppelchen des Publikums, mit denen es die Nichtanwesenden verhaut« — so steht es in einem Buch von ihm. Linnemann macht nicht den Eindruck, als stehe er auf irgendeiner Lohnliste; »Gesinnungskabarett« ist seine Sache nicht. Und: Er ficht mit dem
Florett.
Autor: Martin Gerner
Erstabdruck/Erstveröffentlichung: Reutlinger General-Anzeiger, 21. November 1986
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