Am Freitagabend war die Reutlinger »zelle« ein Fernsehstudio: Das Publikum scharrte mehr oder weniger erwartungsvoll mit den Füßen, die Maske bearbeitete noch einmal schnell die Moderatorin und die Studiogäste, die Regie gab mit näselnder Mikrofonstimme noch einmal beruhigende Sätze von sich, und dann ging's los.
Locker, flauschig, »cool drauf« und vor allem in bester deutscher TV-Produktion »unterhaltsam«.
Der äußere Rahmen der musikalischen Revue des LTT-Jugendtheaters rund ums Fernweh bildete eine manchmal täuschend echt nachgestellte Studio-Unterhaltungsproduktion des Fernsehens. Die Zuschauer wurden aufgefordert, doch »ganz spontan« aufs Stichwort kräftig zu applaudieren, die Studiogäste, ein Chef-Animateur eines Feriendorfs und ein Veranstalter für Survival-Erlebnisreisen, gaben zusammen mit der Moderatorin, gespielt von Theresa Berlage, genau den Schwachsinn ab, den man als Fernsehzuschauer so unter dem Stichwort »Jugendsendung« ins Haus geliefert bekommt.
Ulf, der Animateur, macht »direkt auf dem Albtorplatz« eine Ziellandung mit dem Fallschirm und tobt fortan — in der seichten Unerträglichkeit und auch sonst perfekt von Heiner Kondschak verkörpert, der auch die musikalische Leitung und Bearbeitung der 18 Songs übernahm — ständig plappernd und vor falscher Lockerheit beinahe schwebend durch die »Sendung«.
Markus ist Survival-Spezialist, imagegerecht gekleidet und ebenso dem Klischee entsprechend wortkarg; die Moderatorin hat Schwierigkeiten, aus ihm überhaupt etwas herauszuholen.
Die Revue, inszeniert von Jürgen Zielinski und »fernsehgerecht« von Gabriel Feuerstein ausgestattet, arbeitet logischerweise mit »Schnitten«; auch sonst sind die Zutaten dem TV entnommen.
Das Testpaar Conny und Wolfgang (Annette Burchardt und Klaus Cofalka-Adami) findet sich in verschiedenen Gegenden »auf Urlaub«; es gibt ein Interview mit Jugendlichen zum Thema »Urlaub« und — wieder wie im Fernsehen — jede Menge Musik. Die stammt aus dem Schlager- und Pop-Genre, die einzelnen Titel, etwa »Sternenhimmel« vom Reutlinger Hubert Kah, »Daumen im Wind« von Udo Lindenberg oder eben der Song, der der Revue den Namen gab, »Die Sonne und Du« von Udo Jürgens, sind teilweise im Text dem Bühnengeschehen angepasst.
Das Publikum wird zu den Thesen der Studiogäste befragt, der Regisseur der »Fernsehshow« wird im Verlauf der »Sendung« immer ungeduldiger und gegen Ende, als die fast schon obligatorischen »kritischen Beiträge« über den Sender gehen sollen, ist die Sendezeit natürlich knapp — alles wie im richtigen Fernsehen.
Die Botschaft der Theatermacher an das jugendliche Publikum ist klar: »Die Sonne und Du« verdeutlicht das Geschäft, das man mit einiger Cleverness mit der Zielgruppe »Jugend« machen kann.
Ob das den Besuchern in der »zelle« immer so deutlich war, wie es die Theaterleute gerne hätten, muss angezweifelt werden. Das Theaterstück, das doch eigentlich eine Parodie des Fernsehens sein soll, geriet stellenweise so perfekt, dass die Unterschiede schwanden: Ob jetzt die faden Witze und die trainierte Lockerheit, ganz zu schweigen von der dargestellten Vergnügungssucht »der Jugend«, aus dem rechteckigen Kasten im Wohnzimmer oder »live« von einer Theaterbühne kommen, ist doch eigentlich egal.
Die Zuschauer in der »zelle« genossen das bunte Spektakel sichtlich und lachten in der Vorstellung über genau dieselben Peinlichkeiten, die der Flimmerkiste« zu Recht angekreidet werden. Und es braucht nicht unbedingt ein Theaterstück, das das Fernsehen nachmacht, um die Misere der deutschen sogenannten »Unterhaltungssendungen« in ihrer menschenverachtenden Plattheit zu verdeutlichen.
Autor: Martin Gerner
Erstabdruck/Erstveröffentlichung: Reutlinger General-Anzeiger, 12. Dezember 1988
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