Dienstag, 24. Januar 1989

Theater in der Westentasche: Jetzt reden die (Ehe-) Frauen!

Eine tolle Idee, einfach mal die Frauen berühmter Männer reden zu lassen. Die Autorin Christine Brückner veröffentlichte vor sechs Jahren eine Sammlung von »ungehaltenen Reden ungehaltener Frauen" unter dem Titel "Wenn du geredet hättest, Desdemona".
Drei dieser Frauen, deren Schatten in den Geschichtsbüchern meist kleiner als der ihrer Männer ist, kamen am Sonntagabend (und kommen heute abend noch einmal) im Reutlinger Theater in der Tonne als Gastspiel des Ulmer Theaters in der Westentasche zu Wort. Den Anfang im bis auf den letzten Platz besetzten Tonne-Keller machte Ulrike Witte, die in die Rolle von Christiane von Goethe schlüpfte.
Bevor die Vulpius im Vorzimmer der Charlotte von Stein sich austoben durfte, war kurz der übermächtige Dichter, dargestellt von Hans Münch, präsent. Die Figur, die da auf der spärlich, aber effektiv ausgestatteten Tonne-Bühne entstand, war in ihrer ehrlichen Schlichtheit äußerst lebendig. Die Frau des Dichters wartet, daß die von Stein sie empfängt und verkürzt sich die Zeit, indem sie zügig die Weinkaraffe leert und mit »Madame« abrechnet: Nicht leise, nicht diskret und schon gar nicht vornehm.
Ulrike Witte setzt den Brückner-Text mit viel schauspielerischem Talent und sehr »echt« um. Nur an wenigen Stellen scheint die Darstellung etwas überzogen.
So still war Luther in der Öffentlichkeit nie: Seiner Frau Katharina, ebenfalls von Ulrike Witte verkörpert, hat er bei Tisch nicht viel entgegenzusetzen. Das, was seine Frau ihm sagt, nie sonderlich aggressiv, eher erfahren und ruhig, läßt den großen Luther doch wieder ein paar Zentimeter schrumpfen: »Wenn du kleinmütig bist, kann ich deine wahre Größe erkennen, aber wenn du ins Übermenschliche hinauswächst, dann kann ich dich auch wieder verkleinern. Ich habe nicht das Maß aller Dinge in mir, aber ich habe das Maß für Martin Luther in mir.«
Die herausragende schauspielerische Leistung am Sonntagabend bot Sarah Baumann mit ihrer äußerst differenzierten, den Zuschauer packenden Darstellung der Gudrun Ensslin. »Rede gegen die Wände der Stammheimer Zelle« heißt der Monolog bei Christine Brückner; obwohl das Gefängnis nicht zu sehen war, ließ Sarah Baumann in schwarzer Cordhose und Sweatshirt das Gefangensein der Pfarrerstochter und Terroristin ständig durchblicken. Genauso wie die Vielschichtigkeit dieser Persönlichkeit: Von der knallharten Abrechnung mit dem Elternhaus über Pamphlete im verquasten Soziologendeutsch bis hin zur totalen Mutlosigkeit entsteht in diesem berührenden Monolog das Bild einer Frau, die sich längst nicht mehr über ihre eigene Position sicher ist.
Die drei Reden aus »Wenn du geredet hättest, Desdemona«, vom Theater in der Westentasche aufgeführt, sind ein besonders gut gelungenes Beispiel dafür, wie man Theater auch mit einfachsten Mitteln zum Erlebnis werden lassen kann.
Autor: Martin Gerner
Erstabdruck/Erstveröffentlichung: Reutlinger General-Anzeiger, 24. Januar 1989

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