Vom Tonband hört man Unfallgeräusche, kreischendes Blech, Stille. Ein Motorradfahrer in voller Montur steht auf der zu einem mit imaginären Wänden ausgestatteten Wartezimmer verwandelten Bühne und ist offenbar sehr unsicher; er weiß nicht, auf welchen Stuhl er sitzen soll. Zimpfinger, so stellt sich bald heraus, hat den Crash nicht überlebt das stellt er aber erst später verwundert fest.
»Zimpfinger lebt hier nicht mehr« war der Titel des skurril-komischen und überaus witzigen Theaterstücks, das als Gastspiel des Wiener Theaters »Cache Cache« über die Tonne-Bühne ging. Leider kamen nur knapp 20 Besucher, die Abwesenden haben halt mal wieder was verpasst…
Motorradfahrer Zimpfinger, verkörpert vom hinreißenden Andreas Moldaschl, ist in dem Wartezimmer eines »Wiedergeburts-Beraters« nicht lange alleine.
Eine Frau mit Lockenwicklern im Haar und einer Trockenhaube obendrauf wartet nämlich auch auf die Reinkarnation; wie das so ist in Wartezimmern, kommt man sich über die Kranken-, in diesem Fall: Sterbensgeschichte, näher. Und die »geborene Zimmermann, verstorbene Schöberl« ist auch tot noch ziemlich lebendig. Als Zimpfinger ihr seine letzte Kurve vorgespielt hat, meint sie: »Sportlich. Aber ein ganz gewöhnlicher Motorradunfall. Da kriegen S' sicher nur eine kleine Erwähnung im Lokalteil«.
Bei Frau Schöberl, ungeheuer temperamentvoll von Tini Cermak gespielt, ist alles anders. Sie ist nämlich einem grässlichen, aber verständlichen Mord zum Opfer gefallen, läuft jetzt mit einer großen Stichwunde über der linken Brust und später mit der Original-Mordwaffe ausgestattet herum. Herr Schöberl wollte eigentlich mit seiner Frau in die Oper, entschloss sich aber nach über einer dreiviertel Stunde Verspätung irgendwann zwischen dem Lackieren des vierten und fünften Fingernagels, seine Angetraute schmählichst hinzumorden.
Da stehen die beiden nun und haben sich ihre letzten Momente gegenseitig vorgespielt, mit großem Körpereinsatz und noch größerer Ausdruckskraft. Man besinnt sich, was man jetzt noch alles hätte tun müssen, wenn man unter den Lebenden weilte, malt sich das eigene Begräbnis (»und in der Mitte ich, in der ersten Reihe die besten Freundinnen!«) in den buntesten Farben aus und freut sich seines körperlosen Zustandes: Frau Schöberl und Herr Zimpfinger necken sich aufs amüsanteste, indem sie sich mit dem Mords-Messer gegenseitig stechen — es macht ja sowieso nichts mehr aus.
Die beiden kommen sich näher, streiten sich und verhalten sich auch sonst wie im richtigen Leben. »Ich komm' bestimmt in eine bessere Kategorie«, meint die Schöberl, als der Termin beim Reinkarnations-Berater näher rückt, und Zimpfinger gelobt: »Ich werde beim nächsten Mal ein ausschweifendes Sexualleben haben!«
Dazu kommt der ehemalige Motorradfahrer aber nicht mehr; die beiden werden aufgerufen. Sie öffnen die imaginäre Tür, das Licht im Zuschauerraum geht an: »Warten Sie auch hier? Ja — sind Sie ein Massenunfall?«
»Zimpfinger lebt hier nicht mehr« macht aus einer ungewöhnlichen Situation ein überdrehtes, facettenreiches Spektakel, das ohne den Spielwitz und das Engagement der beiden Schauspieler nur halb so begeisternd wäre. Die Künstler benutzen neben pantomimischen auch artistische, kabarettistische, satirische oder kosmische Elemente. Sie benutzen sie so selbstverständlich gut, dass es schon nicht
mehr auffällt.
Autor: Martin Gerner
Erstabdruck/Erstveröffentlichung: Reutlinger General-Anzeiger, 14. März 1989
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