Ein Mensch betritt die Bühne, ein besonderer Mensch, ein Pianist! Mit völlig verinnerlichten Zügen setzt er sich ans Pianoforte. Den Unterschied zwischen einem Klavierspieler und einem feinsinnigen Interpreten macht der Frack aus; den hat der Musenjüngling vergessen.
Zum Künstler gereift, schließt der blonde Jüngling den Flügel auf. Er wundert sich ein wenig über die vielen kupferfarbigen Drähte, die aus dem Instrument hängen, aber egal, das Konzert muß beginnen. Leise rieseln die Töne, ergriffen lauscht der Künstler sich selber und erliegt fast der meditativen Stimmung.
Plötzlich ertönen gar wundersame Geräusche, unser Pianist fühlt sich erst am Riechorgan gepackt und dann vom Arbeitsplatz entfernt, und ein fast nacktes, durchaus im Prinzip menschliche Züge tragendes, aber doppelbehorntes Wesen quält sich mit scheußlichem Gestöhne und Gebrülle aus dem Innern des Flügels.
Der Pianist kauert total verängstigt in der Ecke und schaut zu, wie der Klavierbewohner diverse Saiten entfernt und Flügel-Kleinteile ausspuckt. Mit Entsetzen bemerkt er, wie sich das kleine Teufelchen ihm zuwendet, dem Gesichtsausdruck nach nicht in bester Absicht. Da muß schweres Verteidigungs-Perkussionsgeschütz her! Der Orgie aus computererzeugten Schlagzeugsounds ist der Mann mit dem Lendenschurz nicht gewachsen.
»Comic Music Show« nennen Ulrich Kahler und Donato Deliano vom "Thelema Breakpoint Jazztheater" ihre Kunst; der Titel ist in diesem Fall eindeutige Untertreibung. Zuerst war gar nicht sicher, ob die beiden spielen würden, so wenig Besucher waren gekommen.
Schließlich saßen dann doch 20 Leute im »Tonne«-Keller, in den man wegen der Dauerberegnung der Spitalhof-Bühne gegangen war. Diese paar Zuschauer erlebten ein Spektakel, das komisch, musikalisch und noch viel mehr war! Der Schauspieler und Akrobat Ulrich Kahlert verblüffte immer wieder mit atemberaubenden Tanzfiguren zur jazzigen Musik. Er kann mit seinem Körper Gefühle ausdrücken, die direkt mit den musikalischen Stimmungen spielen.
Der klassisch ausgebildete Keyboarder (der Flügel war nur Attrappe, drin war ein Computer-Keyboard) Donato Deliano beeindruckte nicht nur mit einer hörenswerten Technik, sondern vermochte auch äußerst sensibel mit den verschiedensten Klängen umzugehen und aus einer großen Stilvielfalt zu zitieren.
Nach erfolgtem »Musenkuß« in der zweiten Szene kann der Tastendrücker plötzlich in barocker Manier auf dem Spinett spielen; vorher hat's nur zu wilden Rhythmusorgien gereicht, bei denen Ulrich Kahlert Musik und Tanz tatsächlich vereinte, in dem er bei und mit seinen Bewegungen auf seinem Körper oder dem Boden herumtrommelte!
Die »Musenkuß«-Performance — dieser unübersetzbare Ausdruck kennzeichnet das vielseitige und begeisternde Programm des Duos am besten — zeigte, daß Musik nicht immer mit dem Kopf verstanden werden muß, sondern auch mit dem Körper »erfühlt« werden kann.
So kann man »Jazz« auch begreifen: Musik u n d Tanz, Theater u n d Zirkus, alte und neue Stile nebeneinander. Das »Thelema Breakpoint Jazztheater« schöpft die Zutaten für sein Spektakel aus beinahe allen kulturellen Fässern.
Die angerührte Mischung ist vom allerfeinsten und begeistert die Zuhörer. Am Schluß der einstündigen Vorstellung gab es, gemessen an den wenigen Besuchern, Riesen-Beifall, vereinzelt »standing ovations« und Bravo-Rufe.
Autor: Martin Gerner
Erstabdruck/Erstveröffentlichung: Reutlinger General-Anzeiger, 08. Juni 1989
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