Dienstag, 4. Juli 1989

Peter Handkes "Kaspar": Eingeschlossen in die Normen

Die Schelte über den mangelnden Publikumszuspruch ist bei den potentiellen Reutlinger Theaterbesuchern bis jetzt auf taube Ohren gestoßen: nicht einmal fünfzehn Besucher
wollten sich Peter Handkes Bühnenmonolog in der Inszenierung des Münchner »Theater der Vereinsamung« ansehen.
Das 120-Minuten-Stück baut auf der tatsächlichen Geschichte des Kaspar Hauser auf. Anhand dieses Beispiels will Handke nicht zeigen, wie »es wirklich ist oder war«, sondern »wie jemand durch Sprechen zum Sprechen gebracht werden kann«.
Was der österreichische Autor Handke mit seinem Protagonist in dem Stück anstellt, ist ein Prozess der »Zivilisierung«, in dem das Individuum »Kaspar« in dem Maße seine Einzigartigkeit verliert, wie es an Ausdrucks- und Reflexionsmöglichkeiten gewinnt.
»Ich möcht' ein solcher werden, wie einmal ein anderer gewesen« ist, spuckt der Schauspieler Andreas Desczyk (Regie: Norbert Seidel) am Anfang stereotyp aus, ohne den Sinngehalt zu begreifen. Als er die »Satzmodelle, mit denen sich ein ordentlicher Mensch durchs Leben schlägt« (Handke) begriffen hat, ist das Requisiten-Chaos auf der Bühne zwar ordentlich aufgeräumt, wie sich das gehört — »Ich fühle mich wohl, wenn die Tür. nachdem sie schon lange offen gestanden hat, endlich geschlossen wird«, sagt Kaspar jetzt — er weiß aber auch, eingeschlossen in die gesellschaftlichen Normen, die er durch Sprache mit akzeptieren hat lernen müssen: »Schon mit meinem ersten Satz bin ich in die Falle gegangen.«
Diese »Sprechfolterung«. so ein alternativer Titel-Vorschlag des Autors, hat die Münchner Truppe in die 90er Jahre übersetzt. Das »Magische Auge«, von dem Handke in seinen Regieanweisungen spricht, das er als Anzeigeinstrument für die Heftigkeit, mit der dem Protagonisten das Sprechen beigebracht wird, verstanden wissen will, ist in der Produktion des »Theaters der Vereinsamung« ein Fernseher geworden. der die ganze Zeit auf der Bühne flimmert.
Nicht nur auf der Bühne ist die Abwehr der Sprache unmöglich — in der Wirklichkeit lassen wir uns doch nur zu oft von der Quantität der Worte und Bilder erschlagen, werden ein bisschen mehr so »wie ein anderer gewesen ist« und verlieren an Individualität.
Autor: Martin Gerner
Erstabdruck/Erstveröffentlichung: Reutlinger General-Anzeiger, 04. Juli 1989

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