Das vor 16 Jahren gegründete Quartett aus San Francisco entspricht all dem: Die Musiker tun sich nicht den Zwang an, einer Kleidervorschrift zu entsprechen, sie legen sich nicht auf ein bestimmtes Repertoire fest, das »ankommt«, in stilistische Schubladen stecken lassen sich die Mitglieder des Quartetts schon gar nicht.
Gewagt ist halb gewonnen: Mit genau dem Konzept, wovor die meisten im Musikbetrieb zurückschrecken, nämlich sich keines klar umrissenen Teilbereichs der Musik zu widmen, hat das »Kronos Quartet« überwältigenden Erfolg. Der einzige Oberbegriff, unter dem sich das in den Konzerten dargebotene Repertoire einordnen läßt, ist »zeitgenössische Musik«. Ob die jetzt von sogenannten »ernsten« oder »unterhaltenden« — diese Einteilung ist nur lächerlich, wie jeder, dem es um Musik und nicht ums kleinkrämerische Katalogisieren oder Sezieren geht, schon längst festgestellt hat — Leuten erdacht wurde, ist dem »Kronos Quartet« und seinem Publikum schlichtweg gleichgültig.
So standen auch im Tübinger Konzert Stücke von »Jazz«-Leuten neben solchen, deren Komponisten eher dem »seriösen« Lager zugerechnet werden. Zum Anfang des zweieinhalbstündigen, beeindruckenden Programms hatte sich das Quartett für »Katzenmusik« entschieden: Bei »Cats« des New Yorker Saxophonisten, Klarinettisten und Komponisten John Zorn (geb. 1953) war der Name ironisch Programm; innerhalb des klar strukturierten Stücks, das von der Romantik über Zitate freien Jazz' bis hin zu original-amerikanischen populären Stilen wie Country oder Bluegrass humorvoll und respektlos alle möglichen Stilformen zitierte, waren die »Katzen« immer wieder zu hören — von erster und zweiter Violine mit Hilfe von modernster Elektronik täuschend echt nachgeahmt.
Auch das ist für manche Leute ein Sakrileg: Man kann doch nicht diese wundervollen, alten akustischen Instrumente elektronisch verstärken und die Klangcharakteristik mit Echo-, Hall- oder Phasenverschiebungselektronik verändern!, schreit der Musenfreund entsetzt auf.
Oh doch, man kann — und es hört sich sogar noch toll an! Außerdem — und das ist entscheidend — könnten David Harrington, John Sherba (Violinen), Hank Dutt (Viola) und die Cellistin Joan Jeanrenaud nie das vergleichsweise riesige Publikum erreichen, wenn sie ihre Instrumente nicht mit diskret angebrachten kleinen Kontaktmikrophonen verstärken und über Lautsprecher wiedergeben würden.
Der gute Ton litt unter der Elektronik nicht; das, was die vier spielten, wäre ohne Hilfsmittel gar nicht denkbar. Die zwanzigminütige, »minimalistische« Reise auf den »Different Trains« eines Steve Reich baut darauf auf, daß die Musiker zu einer Tonband-Wiedergahe ihres eigenen Spiels musizieren, und eingeblendete Sätze sowohl die Züge als auch die musikalische Reise durch die Gegenwarts-Zeit verdeutlichen.
Vom großen Mann des »Tango Nuevo«, Astor Piazolla, war »Four, for Tango« zu hören — ein rhythmisch äusserst verschachteltes Stück eines Komponisten, der sich durch seine breitgefächerte Arbeit jeglicher Kategorisierung entzieht. Dieser Tango wurde eigens für das amerikanische Quartett komponiert, wie auch die meisten der Stücke, die man in Tübingen hören konnte.
»Already it is dusk« — Es dämmert schon hieß die Komposition des 1933 geborenen polnischen Avantgarde-Komponisten Henryk Gorecki, der neben Krzysztof Penderecki zu den führenden zeitgenössischen Komponisten seines Landes zählt. Hier wurde besonders deutlich, mit welch tiefer Konzentration und Hingabe das »Kronos Quartet« musiziert.
Beeindruckend intensiv geriet auch »Soul« des meistunterschätzten Jazzers Amerikas, Charles Mingus (1922 —1979). Dieser geniale Bassist, Pianist und Komponist litt zu Lebzeiten immer darunter, daß Kritiker und Publikum nie so recht einsehen konnten oder wollten, daß »U« und »E« zusammengehören und unmöglich auseinanderzudividieren sind. Von Mingus stammt der Satz, daß eine Komposition niemals besser sein kann als ihre Interpreten — das »Kronos Quartet« gab dem Stück aus einer gänzlich neuen Sichtweise heraus wirklich »Seele«.
Neben »White man sleeps« — auch hier sagt der Titel vieles — des Südafrikaners Kevin Volans und den »Fratres« des estländischen Komponisten Arvo Pärt (1935 — 1981), die obertonreich zeigten. wieviel Musik mit Stille zu tun hat, waren als Zugaben die Stücke zu hören, die das »Kronos Quartet« besonders ins Gespräch brachten: Die Begeisterung war auch beim Tübinger Publikum überschwenglich, als die Musiker ihre Versionen von »Foxy Lady« und »Purple Haze« anstimmten: Diese Kompositionen des wohl wichtigsten Elektrogitarristen der Rockgeschichte namens Jimi Hendrix wurden voller Elan und mit mitreißendem Rhythmusgefühl interpretiert.
Mit welchem Einsatz das »Kronos Quartet« musiziert, wurde nicht zuletzt an dem kleinen Rauchwölkchen deutlich, das über der zweiten Violine aufstieg, als (mal wieder) ein paar Bogenhaare den Kampf gegen die übergroße Reibungshitze verloren... (mpg)