Am Montagabend war der Autor Sten Nadolny auf Einladung des Fetzer-Buchladens in der Stadtbibliothek zu Gast; der Mann, der vor fünf Jahren einen Seefahrer die Langsamkeit entdecken ließ, stellte in einer knapp 90minütigen Lesung sein neues Buch vor.
»Selim oder die Gabe der Rede« ist von den Medien teilweise euphorisch zum »Saison-Hit« erklärt worden; so wird das übergroße Interesse des Reutlinger Publikums verständlicher. 230 Leute drängten sich im »Büchermarkt« der Bibliothek und drumherum, lauschten aufmerksam den über Lautsprecheranlage verstärkten Worten des Autors, richteten am Ende kaum Fragen an ihn, und mußten erkennen, daß das Zuhören kaum ein klares Bild vermittelt: Die über 500 Seiten von »Selim oder die Gabe der Rede« wollen gelesen sein.
Das Buch erscheint als Tagebuch des Alexander. der darin seine Probleme beschreibt, einen Roman über Selim zu schreiben. Dieser Roman ist in das Tagebuch eingearbeitet. Die Protagonisten. Alexander und Selim eben, sind sehr verschieden: Der eine ist am Anfang des Buchs Abiturient und hat Probleme, sich auszudrücken, der andere, nordwesttürkischer Meister im Ringen, kommt zum Arbeiten nach Deutschland und ist ein Meister der Rede, der guten Geschichte.
Alexander macht im Verlauf der 25 Jahre — »Selim« fängt 1965 an und endet 1989 — Karriere; er hat bei Selim gelernt und verkauft Rhetorik-Kurse, ohne selber reden zu können. Selim kommt in ein deutsches Gefängnis, wird abgeschoben und stirbt in der Türkei: In Alexanders Roman heldisch, laut Alexanders Tagebuch bei einem Autounfall.
»Selim oder die Gabe der Rede« ist ein komplexes Buch; zu komplex, als daß eine eineinhalbstündige Lesung mehr als ein kleiner Appetitanreger sein könnte. Deutlich wurde immerhin, wie geschickt Nadolny Zeitgeschichtliches in die Geschichte eingearbeitet hat. »Leider«, so Nadolny am Anfang seiner Lesung, »ist das Buch viel zu dick«.
Was beim Selberlesen klar werden kann, wurde beim Hören nicht unbedingt deutlich: »Selim habe ich auch geschrieben, weil es wichtig war, einen Typus anzugreifen. Es ist ein Versuch, sich gegen die zu wenden, die nur schwätzen«.
Der 47jährige Autor war in Reutlingen schon vom Erfolg seines neuen Buchs gezeichnet: Nadolnys Stimme hatte unter der Lesetour deutlich gelitten. Verständlich, daß er, nachdem seitens des Publikums nur zwei Fragen (»Ihr letztes Buch ist vor fünf Jahren erschienen. Haben sie in der Zwischenzeit nur an >Selim< geschrieben ?«) kamen, und die auch nur mit der bekannten Zögerlichkeit, keine Lust mehr hatte: »Wir müssen hier nicht unbedingt einen langen Abend machen«, meinte Nadolny, bevor er sich verabschiedete.
Autor: Martin Gerner
Erstabdruck/Erstveröffentlichung: Reutlinger General-Anzeiger, 24. Januar 1990
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