Als die Hamburger Journalistin und Autorin Peggy Parnass dann am Dienstag abend vor 90 Zuhörern ihre Lesung in der Stadtbibliothek mit den Worten: »Reutlingen ist ja wirklich idyllisch« begann, hätte man das für pure Ironie halten können, wäre da nicht ein warmherziger Unterton in ihrer Stimme gewesen. Hat sie's ernst gemeint?
Gleichzeitige distanzierte Ironie und engagierte Berührtheit war in allen Texten der »Prozesse«-Autorin zu spüren. Fast zweieinhalb Stunden lang las Peggy Parnass kreuz und quer aus ihren Veröffentlichungen, fragte besorgt nach, »ob denn auch die ganz hinten was hören können«, signierte am Büchertisch des veranstaltenden Jacob-Fetzer-Buchladens jede Menge Bücher — das Neue heißt »Süchtig nach Leben« — in acht Farben und unterhielt sich teilweise sehr lange und herzlich mit ihren Lesern.
Erfahren konnte der, der sie noch nicht kannte, etwas von der Vielseitigkeit der Autorin; neben tagesaktuellen Gebrauchs-Texten las Peggy Parnass einen langen, sehr persönlichen Essay über ihren Vater, oder eine kabarettreife Gerichtsreportage mit dem Titel »Freunde im Wohnlager«.
Da wollte ein Mann im Suff mit der Frau seines besten Freundes ins Bett steigen. Es kommt zum Streit. Der eine sticht den anderen mit dem Messer. In der Verhandlung ist gar nichts gewesen, man hat den Verletzten im Krankenhaus besucht und ist sich nicht böse. In dieser Geschichte wird die realitätsferne Sprache der Justiz von Peggy Parnass wirkungsvoll und witzig mit der Sprache der Straße kontrastiert, wobei sie die Befragten hamburgisch reden läßt.
Von der »Schande, die sie Mutter angetan hat«, erzählt sie auch: Als sie in der Schule vorsingen soll, trägt sie — in Anwesenheit der Mama — so wertvolles Volksliedgut wie »Ein Pups, der fiel vom Dache«, »Das ist die Liebe der Matrosen« oder »Oh Donna Clara« vor. Die Lieder singt sie auch mit tiefer, intonationssicherer Stimme in der Stadtbibliothek, was bei den Zuhörern — die Hörerinnen waren mal wieder in der Mehrzahl — teils Schmunzeln, teils Verwirrung hervorruft.
»Die Satanei der Ungleichheit« heißt ein an derer Text, in dem die Autorin unter anderem die wichtige, aber immer noch weitgehend unbeantwortete Frage stellt, warum denn um Himmelswillen bei Männern ein Bierbauch und wabbeliges Gesichts- oder sonstiges Fleisch akzeptiert wird und bei Frauen nicht?
»Keine Frau treibt aus Jux ab« erzählt die Geschichte des Paragraphen 218 und ruft den Prozeß gegen den Memminger Frauenarzt Dr. Theissen in Erinnerung. Bei dem nahm, unter Verantwortung der bayerischen Justizministerin, die Steuerfahndung gleich noch die Patientenkartei mit.
279 Frauen und 78 ihrer Männer und Freunde wurden angeklagt, 174 zu teilweise erheblichen Geldstrafen verurteilt.
Auch eine so erfolgreiche, preisgekrönte und bekannte Journalistin wie Peggy Parnass hat es manchmal schwer, ihre Texte »an den Mann« zu bringen: Ein Kommentar zur »Wiedervereinigung« mit dem Titel »Unzucht mit Abhängigen« wurde von fünf Zeitungen abgelehnt.
Am packendsten geriet ein Essay der Autorin über ihren Vater. Der, Simon Parnasse, sah Charlie Chaplin ähnlich, heiratete mit 47 Peggys 18jährige Mutter und war ein Spieler, der zaubern konnte, weil seine Tochter ihm beim Mogeln half.
Die Autorin erzählt von den ärmlichen Verhältnissen, in denen sie aufwuchs, davon, daß sie mit vier aufgeklärt war. Als sie im Nachttisch des Vaters Präservative fand, fragte sie scheinheilig, was denn das für Dinger seien. Antwort: »Darin mißt man Medizin«.
Als bei der jüdischen Familie Parnass morgens um fünf die Polizei vor der Tür stand, um den Vater abzuholen, drängelte der so lange, bis seine Kinder ebenfalls verhaftet wurden. »Stell dich nach außen, die sollen sehen, was hier mit Kindern passiert«, sagte »Puddel« zu Peggy, als sie auf einem Viehwagen durch die Straßen Hamburgs abtransportiert wurden; später soll sie zu einem Fremden »Papa« sagen, um zu entkommen. Peggy Parnass kann nach Schweden fliehen, ihre Eltern müssen ins Warschauer Ghetto, wo der Vater die Essensverteilung organisiert. Die Eltern der Autorin wurden in Auschwitz ermordet
Um halb elf war die Lesung beendet: Mit ihren Lesern »diskutieren«, auch hier zeigt sich die Klugheit der Autorin, wollte Peggy Parnass nicht und nahm still lächelnd den minutenlangen Applaus der Zuhörer entgegen.
Autor: Martin Gerner
Erstabdruck/Erstveröffentlichung: Reutlinger General-Anzeiger, 26.