Mittwoch, 9. Mai 1990

Dagmar Chidolue: Immer diese blöden Mütter

Fachleute, die mit dem gedruckten Wort zu tun haben, waren bei der Lesung der Kinder-und Jugendbuchautorin Dagmar Chidolue fast unter sich. Und wie es bei Lesungen so ist: Unter den 20 Zuhörern waren nur zwei Männer. Die Autorin redete lange übers Büchermachen und -schreiben und ließ die Zuhörer den ihrer Meinung nach besten Titel von drei möglichen des aktuellen Buchs wählen. Dagmar Chidolue, die 1986 den deutschen Jugendliteraturpreis für »Lady Punk« bekommen hat, freute sich sichtlich, dass »London, Liebe und all das«, ihr eigener Titelvorschlag, auch in der Reutlinger Buchhandlung Kocher in der Publikumsgunst vorne lag.
Sichtlich angetan war die Autorin auch von dem Gekicher der Zuhörer, als sie aus dieser Liebesgeschichte las. In »London, Liebe und all das« erzählt Dagmar Chidolue mit genauer Beobachtungsgabe, wie ein junges Mädchen während eines Englandaufenthalts einen Afrikaner kennenlernt und sich in ihn verliebt. Natürlich ist die Mutter »dagegen« und Papa sagt — ebenso natürlich — gar nichts. Als Katharinas Freund nach Deutschland zu Besuch kommt, sind die Berührungsängste der Eltern groß. Dank Katharinas nicht ganz korrekter Dolmetscherarbeit und Bildern von dem Elternhaus des schwarzen Mathematikstudenten (»Das ist ja ein richtiges Haus!) entspannt sich das Verhältnis etwas.
»Das ist ja amüsant«, meinte eine Zuhörerin, »aber warum muss die Mutter dabei so dumm wegkommen?« »Weil sie es ist«, war die lakonische Antwort der Geschichtenerzählerin Chidolue. Dass in ihren Büchern Männer »kaum stattfinden« würden, hänge mit ihrer Kindheit zusammen, meinte die Autorin, und damit, dass sie sich bei Männern nicht so auskenne wie bei Frauen; »man hat mir gesagt, dass Männer anders sein sollen«, witzelte Dagmar Chidolue.
Aus dem »enorm frechen« Kinderbuch »Mach auf, es hat geklingelt« las die bei Frankfurt lebende Schriftstellerin ebenfalls kurze Abschnitte. Beherrschendes Diskussionsthema dieser Lesung innerhalb der »JugendArt«- Woche war die Frage, warum Frauen gegenüber ihren Kindern in kritischen Situationen genau wie ihre eigenen Mütter reagieren, obwohl sie so eigentlich nie handeln wollten.
Dagmar Chidolue, die selber Kinder hat, wußte auch keine endgültige Antwort, plauderte aber offen über Probleme schreibender Mütter: »Wenn meine Töchter streiten, sage ich: >In meinem Hause nicht!< und gehe sofort an den Schreibtisch, um mir alles aufzuschreiben!«
Autor: Martin Gerner
Erstabdruck/Erstveröffentlichung: Reutlinger General-Anzeiger, 09. Mai 1990

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