Samstag, 6. Juli 1991

AfroBrasil Tübingen '91: Brasilianische Fiesta auf dem Marktplatz

Ein Musikfestival, wie es sich der Fan erträumt: Die afrobrasilianische Nacht innerhalb der vom »Zentrum Zoo« organisierten »Jazzstadt Tübingen«-Reihe wurde bei wahrhaft südamerikanischen Temperaturen zu einem rauschenden, ausgelassenen Fest.
3000 Besucher kamen am Samstag auf den Marktplatz, um brasilianische Musik und Tänze live zu erleben. Den ursprünglich angekündigten Milton Nascimento vermißte nach dem begeisternden Auftritt der Jazzvokalistin Leny Andrade wohl kaum einer der Zuhörer. Außer Andrade traten bei dem fast siebenstündigen Musikmarathon der Sänger und Gitarrist Fernando Cruz mit seiner Band auf, dazu zwei Tanzformationen und eine der bekanntesten Vertreterinnen der »Musica popular brasileira«, die Sängerin Gal Costa.
Kurz vor halb sechs kletterte Brigitte Heilemann vom »Zoo« auf die geräumige Bühne und eröffnete mit der Ansage für Fernando Cruz das Fest. Cruz hatte überhaupt keine Probleme mit der sonst für Musiker kritischen Funktion des »Anheizers«: Keine drei Stücke dauerte es, bis das Publikum begeistert tanzte und sich von der pulsierenden Musikmixtur des gelockten Sängers anstecken ließ. Cruz kam mit der »Bands Tempero« nach Tübingen — alles exzellente Musiker an Keyboards, Baß, Schlagzeug, Saxophon und jeder Menge Perkussionsinstrumenten, die schlafwandlerisch sicher zusammenspielten und von der Kulisse des belebten Tübinger Marktplatzes sichtlich angetan waren.
Das permanente Lächeln auf den Gesichtern der Musiker übertrug sich auch auf das Publikum — so viele offensichtlich glückliche Menschen sind selten auf einem Fleck zu sehen. Die Mischung aus Rhythmen wie Macaratu, Afoxe, Samba, Salsa und Reggae mit stark an afroamerikanischen Pop-Produktionen angelehnten Arrangements und Sounds zündete — auch bei den nicht portugiesisch sprechenden Fans. »Entscheidend ist, daß meine Musik die Fantasie der Leute anregt und sie zum Tanzen bringt«, sagt Cruz. Diese Forderung erfüllte er in Tübingen lässig, wenn auch mit Hilfe eines äusserst hübschen Tanzpärchens, das in der Tat die Fantasie des einen oder anderen heftig beflügelt haben dürfte.
Ein hin- und mitreißendes Erlebnis wurde der Auftritt der hierzulande weitgehend unbekannten, in Brasilien aber als Jazzstar gefeierten Leny Andrade und ihrer kleinen Gruppe. Mit sparsamsten musikalischen Mitteln, in vielen Jahren erworbener Professionalität und gesangstechnisch absolut perfekt verband die füllige Sängerin mit großer Ausstrahlung brasilianisches Rhythmusgefühl und Jazzphrasierung — so, als ob diese beiden Musikwelten schon immer zusammengehörten. Ob Bossa oder Samba, ob Pop oder Jazzstandard, ob Lieder oder reiner Scat-Gesang: Leny Andrade gelang es stets, das hier sehr konzentriert wirkende Publikum mit ihrer Stimme zu ergreifen.
Ihr Stimmumfang reicht über drei Oktaven und die Brasilianerin ist äußerst variabel im Ausdruck. Dunkle, samtige Töne gelangen der Andrade ebenso wie energiegeladene Stimmungsmache, die auch einer Rock-Röhre zur Ehre gereichen würden. Die Begleitmusiker von Leny Andrade spielten auf dem gleichen hohen Niveau wie ihre Chefin. Pianist Joao Carlos Coutinho begleitete sparsam und auf den Punkt genau. Lucio Antonio do Nasciamento übernahm auf dem Baß gleichermaßen rhythmische wie melodische Aufgaben: Er brachte seine dicken Saiten zum Singen und spielte wie aus einem Guß mit Schlagzeuger Ubaldo Adriano de Oliveira zusammen. Das Publikum reagierte begeistert und spendete am Ende dieses einstündigen Sets frenetisch Beifall.
Den bekamen die beiden Tanzformationen »Mulatas do Brasil« und »Saudades do Brasil« nicht. Die einen kamen in farbenprächtigen, sehr knapp geschnittenen Kostümierungen mit Federbüschen auf den Köpfen auf die Bühne und hewegten sich recht ansprechend zur Musik vom schlecht aufgenommenen Tonband, die andere zeigten rituelle Tänze in schnellen Bewegungen. Bei diesem Auftritt flachte die Stimmun, im Publikum merklich ab — vielleicht auch deswegen, weil die Show der Gruppen dem mitternächtlichen Silvester-Fernsehprogramm hierzulande stark ähnelte.
Gespalten reagierte das Publikum auch auf das einzige Deutschland-Konzert von Gal Costa: Enttäuscht waren die, die nur ausgelassen tanzen wollten — die vielen Brasilianer und Portugiesen auf dem Marktplatz verfielen dagegen stellenweise fast schon in Hysterie.
Mit 15 Begleitern sang sich die in Brasilien als Megastar gefeierte Costa sanft swingend durch ihr umfangreiches Repertoire. Ein wenig unglücklich war der Aufbau ihrer Show gewählt: Nach anfänglichen »Steel Drum«-Gewittern sang sie nämlich eine halbe Stunde lang leise Lieder, nur von einem einfühlsamen Gitarristen begleitet: Die Brasilianer im Publikum sangen mit, die Tanzwütigen hatten sich das natürlich anders vorgestellt.

Später, als die gesamte Band eingestiegen war, kam dann zumindest in den ersten Reihen vor der Bühne doch noch rauschende Stimmung auf. Trommler setzten mit wilden Polyrhythmen einen furiosen Schlußpunkt unter das reguläre »Plural«-Programm der Sängerin. Mit einer leisen Zugabe verabschiedete sich Gal Costa vom Tübinger Publikum. Als Brigitte Heilemann exakt eine Minute vor Mitternacht auf die Sperrstunde aufmerksam machte und die Zuhörer nach Hause schickte, waren noch minutenlang gellende Pfiffe zu hören. (mpg)

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